nd-aktuell.de / 24.03.2025 / Kultur / Seite 1

Unser Bestes

Wie konnte es passieren, dass Berliner Bäcker ihr eigenartiges Mehlerzeugnis »Brot« nennen dürfen?

Thomas Blum
Dem Berliner ist die Stulle schnuppe und so schmeckt sie halt dann auch.
Dem Berliner ist die Stulle schnuppe und so schmeckt sie halt dann auch.

Lassen Sie uns über eines der großen Tabuthemen der deutschen Hauptstadt sprechen: Brot. Von den Medien wird es aus Gründen, die niemand kennt, nicht aufgegriffen (das Thema, nicht das Brot).

Niemand wagt es, es öffentlich auszusprechen, und es ist auch nicht zu glauben, aber es ist wahr: Ein Produkt, das seit Jahrzehnten in Berlin unter dieser irreführenden Bezeichnung und diversen Tarnbezeichnungen firmiert (»Brötchen«, »Schrippe«, »Schusterjunge«), wird nach wie vor in legalen Produktionsstätten hergestellt und vertrieben. Tag für Tag, Nacht für Nacht. Keiner unternimmt etwas dagegen. In sogenannten Back-Shops wird es offiziell als Lebensmittel angeboten und verkauft, ohne dass die Ordnungsbehörden bislang irgendeine Maßnahme veranlasst haben. Und das, obwohl man nicht weiß, woraus Berliner »Brot« im Einzelnen besteht.

Weder schreitet das Gesundheitsamt noch das zuständige Bundesministerium ein, das sich wie zum Hohn den Namen »Ministerium für Verbraucherschutz« gegeben hat. Auch bei der europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit stellt man sich taub. Während den finsteren Machenschaften Berliner Backfabriken kein Einhalt geboten wird: Weiterhin erwecken die Vertriebs- und Verkaufsstätten durch die Art der Lagerung, Zurschaustellung und Kennzeichnung des »Brotes«, dem irreführende Namen gegeben werden (»Gaumenfreude«, »Gourmetstange«, »Kraftmaxe«, »Unser Bestes«), beim Verbraucher den Eindruck, man könne es zu Ernährungszwecken dem menschlichen Körper zuführen. Das »Brot« wird sogar in Regalen und Verkaufsauslagen listenreich zwischen genießbaren, unschädlichen Esswaren platziert, um derart die Konsumenten zu täuschen und ihnen vorzugaukeln, sie hätten es hier mit einem normalen Erzeugnis zu tun.

Daher muss man immer wieder hilflos dabei zusehen, wie Menschen sich kleine Stücke davon in den Mund schieben, sie zerbeißen und sie sich womöglich gar einverleiben. Selbst arglosen Kindern gibt man das Zeug in die Schule mit, »zum Essen«. Das Kauen und Schlucken von Berliner Backwaren scheint, nach allem, was man bisher weiß, in der Hauptstadt eine relativ weit verbreitete Praxis zu sein, seit Jahrzehnten eingeübt. Und wie die Wissenschaft bestätigt, sind archaische Praktiken, die seit Jahrhunderten als rituelle Handlung ausgeführt werden, insbesondere in kulturell rückständigen Regionen wie Berlin (und Umgebung), den Leuten nur unter größten Anstrengungen wieder auszutreiben.

Dem »Geschmack« des Berliner »Brotes« hat der autochthone Berliner anscheinend bisher keinerlei Beachtung geschenkt. Dass es auf beunruhigende Art sättigend scheint, genügt ihm – bis in unsere halbwegs aufgeklärte Gegenwart hinein – offenbar vollauf. Meistens, so hat man festgestellt, hat das »Brot« den menschlichen Körper auch wieder auf natürlichem Weg verlassen.

Erst vor Kurzem konnten, für Forschungszwecke, 100 Freiwillige aus Regionen gewonnen werden, in welchen echte, das heißt: bekömmliche, essbare Backwaren hergestellt werden. In Berlin herrscht die stille Übereinkunft, darüber nicht zu reden, selbst Journalisten beschweigen diese Tatsache hartnäckig: In Österreich, Bayern und Baden-Württemberg wird in manchen Landstrichen authentisches Brot gebacken, aus Zutaten, die zu diesem Zweck empfohlen werden. Dem Vernehmen nach soll es solches Original-Brot sogar in zahlreichen Sorten und Varianten geben, die einen sogenannten Eigengeschmack aufweisen. Es soll »erstaunlich aromatisch« sein und eine »Kruste« haben, wie nach Berlin zurückkehrende Reisende aufgewühlt berichten.

Tatsächlich lieferten Studien mit aus Süddeutschland stammenden Probanden, denen im Rahmen einer umfangreichen Versuchsreihe ein Stück Berliner »Brot« verabreicht wurde, eindeutige Ergebnisse: 67 Prozent der Studienteilnehmer schilderten den Geruch des »Brotes« als »seifen-« oder »karbolartig«. 32 Prozent glaubten darüber hinaus, eine »leicht faulige« Note wahrzunehmen. Nur ein Proband, der in Berlin aufgewachsen ist und erst seit einer Woche in Bayern lebt, nahm keinen Anstoß an der Ausdünstung der Berliner Substanz. 79 Prozent wollten selbst unter gutem Zureden nicht davon probieren und verweigerten unter teils lautstarken Unmutsbekundungen die Einbringung des »Brotes« in ihren Mundraum. 15 Prozent spuckten den eingeführten Bissen umgehend aus oder entfernten diesen anderweitig aus ihrem Mund. Fünf Prozent konnten dazu überredet werden, die Masse hinunterzuschlucken, und gaben hernach übereinstimmend zu Protokoll, dass sie noch nie zuvor etwas derart Abstoßendes zu sich genommen hätten. »Die trockenen Krümel zerfielen mir im Munde wie modrige Pilze«, so einer der Studienteilnehmer. Der aus Berlin stammende Proband konsumierte die Substanz anstandslos und beschwerte sich nicht.

Über die Zusammensetzung von Berliner »Brot« ist, wie oben erwähnt, bis heute leider wenig bekannt. Klar ist indessen, dass sowohl was seine Konsistenz als auch was seinen Geschmack betrifft, in Nicht-Berlinern bei Verzehr gleichbleibend »ungute« Gefühle ausgelöst werden: Das Spektrum reicht von Wut und Angst über Traurigkeit bis zu Ekel, von »Gaumenfreude« berichtet keiner.

Ich bin mir nicht sicher, ob in einer besseren Zukunft die Produktbezeichnung »Brot« nicht geschützt werden sollte. Sicher ist jedenfalls: In Berlin fabriziertem »Brot« dürfte auch künftig als Exportgut kein Erfolg beschieden sein. (Alles hier Mitgeteilte gilt im Übrigen auch für Berliner »Bier«.)