Rolf Dieter Brinkmann muss man sich als einen zornigen Menschen vorstellen. In den knapp 35 Jahren, die ihm auf Erden beschieden waren, schrieb und lebte der Dichter lauthals radikal und konsequent in Armut gegen den Muff, die Verlogenheit und Lebensfeindlichkeit der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft, in die er 1940 hineingeboren wurde. In Vechta, Niedersachsen, wo seit einem Jahr Daniela Klette in Haft sitzt, kam er auf die Welt: Der Vater war Finanzbeamter, die Mutter, Hausfrau, starb 1957 an Krebs, als Rolf Dieter sich schon ans Dichten gewagt hatte. 1975 auf Lesereise in England wird Brinkmann in London von einem Auto erfasst – »das vielleicht einzige Genie der westdeutschen Nachkriegsliteratur«, wie Heiner Müller ihn nannte, ist sofort tot.
Nun liegt ein halbes Jahrhundert später im Rowohlt-Verlag, wo bislang postum zehn Brinkmann-Bücher publiziert wurden, die erste Biografie über ihn vor. Der Titel, natürlich, ein Brinkmann-Zitat: »Ich gehe in ein anderes Blau«. Die Literaturwissenschaftlerin Alexandra Vasa hat sie zusammen mit Michael Töteberg verfasst, der viele Jahre bei Rowohlt und als Filmjournalist arbeitete. Auf den rund 400 Seiten, mit einem schönen Fototeil in der Mitte des Buches, wird weitestgehend chronologisch vorgegangen. Die beiden konnten auf große Mengen unveröffentlichten Materials zurückgreifen aus Nach- und Vorlässen. Sie verwenden viele Briefe Brinkmanns, sodass phasenweise bei der Lektüre der Eindruck entsteht, Brinkmann selbst erzählte, wie es damals war.
Die Kindheit[1] verlief wenig glücklich, die alliierten Bombardements traumatisieren den Jungen, Bilder fressen sich in den Kopf. Als Schüler brilliert Brinkmann nicht, er stört, wird aber Mitglied in einem Rhetorik-Club, wo er seine ersten Gedichte und freiwillig Referate zu selbst gewählten Themen vorträgt, unter anderem zur existenzialistischen Literatur, was den konservativen Klassenkameraden nicht behagt. Es folgt eine Buchhändlerlehre in Essen, wohl eine einzige Plackerei, aber er lernt an der Ruhr seine Ehefrau Maleen kennen und hat als Lehrlingskollegen Ralf-Rainer Rygulla, mit dem er später US-amerikanische Lyrik herausgeben wird in der legendären Anthologie »Acid«[2]. Es folgt der Umzug nach Köln; das Pädagogik-Studium nimmt er selten ernst, wird doch immer deutlicher, dass er freier Schriftsteller sein will, was für Brinkmann einen Kampf gegen sich selbst, die BRD-Gesellschaft, ihren Kulturbetrieb bedeutet.
Brinkmann schreibt unentwegt Gedichte, kurze Prosa und schickt seine Texte an Zeitschriften, Verlage, Autoren – sogar an Gottfried Benn, den er jugendlich verehrt. Nach den obligatorischen Absagen kommt er mit dem Erzählband »Die Umarmung« bei Kiepenheuer & Witsch unter: ein Talent, das sich zu wenig sagen lässt, stößt bei Empfängen auf Etablierte und Gesetzte, was er hasst. Seine Gedichte erinnern an Popsongs, blicken auf die Welt, ohne sie rhetorisch aufzumöbeln. Es sind oft Szenen, Wahrnehmungsfolgen in einer aufklarenden Sprache, ohne dabei unterkühlt zu sein. Seine Prosa zeigt ein von Großstadt, Kino, Musik, schmerzhaften Wutausbrüchen, irrlichternder Selbstbespiegelung zerschnittenes Bewusstsein.
Maleen bringt den Sohn Robert zur Welt, er hat eine geistige Behinderung. Brinkmann tobt gegen die Großen, kann zart sein zum Sohn. Der Roman »Keiner weiß mehr« weiß davon. Was die oft beschwerliche Ehe der beiden betrifft, bleibt die Biografie diskret. Es kommt wenig Geld rein, es wird um Vorschüsse gefeilscht, angeschrieben in Geschäften und Kneipen. Ein Verdienst der Biografie von Töteberg und Vasa besteht darin, Brinkmanns Wandeln, Wirken und Wüten im Literaturbetrieb genau nachzuzeichnen, ohne sich dabei hinreißen zu lassen, ihn als edlen Rebellen zu stilisieren oder als Stänkerer-Spinner abzutun.
Auch mit linken Studenten um 1968 kommt er, laut Presse ein »Gesinnungsunrasierter«, nicht klar. Bei einer Lesung an der Kölner Uni, die von Brinkmann selbst als Happening angelegt war, soll er den Immatrikulierten zugerufen haben: »Ihr seid ja abgerichtet, abgerichtet seid ihr«. Parteigänger wurde er keiner – die Briefe, zum Beispiel an den kommunistisch orientierten Schriftsteller Hermann Peter Piwitt zeigen, dass alles Floskelhafte, Unhinterfragte ihm zuwider war. Langsam wird er, so seine Biografen, eine »Kultfigur«, aber mit denen wollen viele ja privat nichts zu tun haben.
Das Geld langt hinten und vorne nicht, »der ganze Betrieb ist versaut, war es schon immer, und Gottseidank bin ich Amateur, habe auch nicht vor, diesen Status zu verlassen«. Trotzdem lässt er sich auf ein Stipendium ein in Rom, die berühmte Villa Massimo ruft – Brinkmann hasst es dort, die Stadt, das Haus, die anderen Stipendiaten: »Sie kennen Trends, sie kennen den Markt, sie kämpfen um eine bessere Marktchance, sie sind eigentlich namenlose Arschlöcher.« Einige Jahre später als Gastdozent am Germanistischen Seminar der Uni Houston läuft es besser: Er kommt, notgedrungen, ins Gespräch und macht Bekanntschaften.
Der Autodidakt Brinkmann hat einen weiten Horizont. Er liebt die Beatnik-Literatur, verwendet die von William S. Burroughs bekannt gemachte Cut-up-Technik für Text-Collagen und bewundert den Lyriker Frank O’Hara. Der Band »Westwärts 1 & 2« mit Lyrik, Prosa, Fotos ist sein wohl ambitioniertestes Werk. Töteberg und Vasa verzichten weitestgehend auf Interpretationen der Literatur Brinkmanns. Ihnen geht es um Schreibszenen und Techniken, auch eine Literaturbetriebsgeschichte wird beiläufig erzählt. Dabei lässt sich »Ich gehe in ein anderes Blau« flüssig lesen, wirkt nicht vollgestopft mit pedantischstem Fan- oder Philologenwissen. Die Biografie ist geeignet für Leserinnen und Leser, die sich mit Brinkmann gründlich, wenig oder bislang gar nicht beschäftigt haben – alle also, und Anlass hat man immer.
Michael Töteberg/Alexandra Vasa: Ich gehe in ein anderes Blau. Rolf Dieter Brinkmann – eine Biografie. Rowohlt, 400 S., geb., 35 €.