»Ich werde der Unionsfraktion nicht empfehlen, eine AfD-Abgeordnete oder einen AfD-Abgeordneten in ein Staatsamt zu wählen«, sagte Friedrich Merz neulich. Es geht um den Posten eines Bundestags-Vizepräsidenten, der zumindest indirekt Verfassungsrang hat. Denn wer dem Parlament vorsteht, ist nach dem Bundespräsidenten die zweitwichtigste Person im Staate, und die Vizepräsidenten vertreten den Präsidenten oder die Präsidentin bei Bedarf.
Präsidentin wird ab diesem Dienstag wohl die CDU-Politikerin Julia Klöckner [1]sein. Vermutlich fünf Vizepräsidenten könnte der nächste Bundestag haben – jeweils einen für Union, AfD, SPD, Grüne und Linke. Zumindest theoretisch. Jede Fraktion hat Anspruch darauf, aber nicht in Form eines Blankoschecks. Denn die jeweilige Person muss eben auch das Vertrauen der Parlamentsmehrheit erhalten.
In diesem Spannungsfeld ist die AfD seit ihrem ersten Einzug in den Bundestag 2017 schon 26 Mal gescheitert. Immer wieder fielen ihre Kandidaten durch. Dass die AfD sich darüber beim Bundesverfassungsgericht beschwert hat, nützte ihr nichts; ihre Anträge dort hatten keinen Erfolg, weil Abgeordnete keinen Weisungen unterliegen und nur nach ihrem Gewissen entscheiden.
Angesichts der Ankündigung von Friedrich Merz dürfte es auch dabei bleiben. Denn dass Abgeordnete von SPD, Grünen oder Linkspartei einen AfDler wählen, gilt als ausgeschlossen. In den Fällen, in denen AfD-Bewerber mehr Stimmen bekamen, als ihre eigene Fraktion aufbringen kann, kamen diese mutmaßlich von CDU und CSU. Nachweisen lässt sich das freilich nicht, da diese Wahlen geheim stattfinden. Nun versucht es die auf 152 Mitglieder stark angewachsene AfD-Fraktion[2] mit einem alten Bekannten: dem ehemaligen Bundeswehroffizier Gerold Otten, der seit 2017 dem Bundestag angehört und 2019 erfolglos für den Vizevorsitz kandidiert hatte – als einer von vielen aus seiner Partei.
Wer will einen Alterspräsidenten, für den die NS-Zeit ein Vogelschiss der Geschichte war?
Da mit einer erneuten Ablehnung zu rechnen ist, erweist es sich für die AfD als günstig, dass gleich fünf ihrer Abgeordneten – alles Männer – Interesse an der Kandidatur gezeigt hatten. Vermutlich geht das Spiel weiter: Die AfD stellt Bewerber auf und benutzt deren Ablehnung als Beweis für ihre Behauptung, dass es angeblich keine echte Demokratie gibt.
Der Streit um von der AfD beanspruchte Posten dreht sich auch um andere Bereiche, angefangen beim Alterspräsidenten. Welchen parteitaktischen Missbrauch man mit dieser protokollarischen Verantwortung treiben kann, zeigte im letzten Jahr die Konstituierung des Thüringer Landtags, die von einem AfD-Alterspräsidenten ins Chaos gestürzt wurde. In der Konsequenz wurden dort die Regeln geändert, nach dem Vorbild des Bundestags: Hier war bereits 2017 beschlossen worden, dass Alterspräsident nicht mehr der nach Jahren Älteste, sondern der oder die nach Parlamentsjahren Erfahrenste sein soll.
Es war ein Vorgriff auf kommenden Ärger mit der AfD. Und in der Tat: Im neuen Bundestag ist der AfD-Abgeordnete Alexander Gauland der Älteste. Aber wer will einen Mann die Legislaturperiode eröffnen lassen, für den »Hitler und die Nazis nur ein Vogelschiss in unserer über 1000-jährigen Geschichte« sind? Stattdessen fungiert diesmal der Linke-Politiker Gregor Gysi als Alterspräsident[3], der dem Bundestag mit einer kurzen Unterbrechung seit 1990 angehört.
Auch um die Frage, wer welche Bundestagsausschüsse leiten darf, wird es wieder Auseinandersetzungen geben. Nach ihrer Größe steht den Fraktionen der Vorsitz in bestimmten Ausschüssen zu. So beansprucht die AfD im neuen Bundestag die Leitung von fünf Ausschüssen. Das sehen andere Fraktionen skeptisch. Schon im bisherigen Bundestag fielen AfD-Kandidaten durch; der immerhin gewählte Chef des Rechtsausschusses, Stephan Brandner, ein Scharfmacher in seiner Fraktion, wurde 2019 nach beleidigenden Äußerungen abgewählt.
Auch in Fragen des Ausschussvorsitzes bemühte die AfD die Gerichte, scheiterte aber in Karlsruhe. Jede Fraktion habe das Recht, angemessen in den Ausschüssen vertreten zu sein und so parlamentarisch mitzuwirken, entschied das Bundesverfassungsgericht. Dieses Recht auf Gleichbehandlung gelte aber nicht in Bezug auf die Ausschussvorsitzenden, die vor allem organisatorische Aufgaben hätten.
Und es gibt weitere sensible Gremien, bei denen immer die Frage steht, ob AfD-Vertreter geeignet sind, dort mitzuarbeiten. Etwa das Parlamentarische Kontrollgremium, das die Arbeit der Geheimdienste überwacht. Oder Einrichtungen, in die der Bundestag Abgeordnete entsendet; beispielsweise das Kuratorium der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas, die für das Berliner Holocaust-Mahnmal zuständig ist.
Die AfD von direktem politischen Einfluss fernzuhalten, ohne die Grundregeln des Parlamentarismus zu verletzen, bleibt ein Balanceakt. Erst recht nach dem starken Wahlergebnis der Rechtsaußen-Partei im Februar. Und es sind ja nicht nur die Abgeordneten. Was da an rechten Mitarbeitern ins Parlament gelangt, ist besorgniserregend. Es wird sich ein Trend verstärken, den die scheidende Bundestags-Vizepräsidentin Petra Pau[4] gegenüber »nd« kürzlich so beschrieb: »Da standen wir plötzlich Mitarbeitern dieser Fraktion gegenüber, die wir von Nazidemonstrationen kannten.« Damit demokratisch korrekt und dennoch politisch entschieden umzugehen, bleibt eine Aufgabe aller anderen Fraktionen.