Für die Einen ist dieser Tag längst Routine, für die Anderen ist es der wohl aufregendste Tag ihres Lebens. Für Gregor Gysi dürfte es eine Mischung aus beidem gewesen sein. Denn der 77-jährige Linke-Politiker durfte als dienstältester Abgeordneter am Dienstag die konstituierende Sitzung des 21. Deutschen Bundestages eröffnen. Und das hieß auch: Er durfte im Plenum so lange sprechen, wie er wollte.[1]
Gysi hatte vorher gewitzelt, dass er seine unbegrenzte Redezeit als Alterspräsident schamlos ausnutzen werde. Dann sprach er jedoch nur 38 Minuten[2] – und thematisierte dabei den Krieg in der Ukraine, die deutsche Rolle im Nahost-Konflikt und seinen Wunsch, die Universität in Trier nach dem Theoretiker Karl Marx.
Der neu gewählte Bundestag müsse in einer schweren Zeit agieren, so Gysi. »Wir haben einen Krieg in Europa, kriegerische Auseinandersetzungen im Nahen Osten und viele bewaffnete Konflikte in Afrika. Das Völkerrecht wird von vielen Seiten immer wieder verletzt.« Wer im Bundestag angesichts des völkerrechtswidrigen Angriffskrieges Putins auf Deeskalation, Interessenausgleich, viel mehr Diplomatie, gegenseitige Abrüstung und die strikte Wahrung des Völkerrechts durch alle Seiten setze, dürfe nicht als Putin-Knecht beschimpft werden, mahnte Gysi.
Zum Krieg in Israel und Palästina betonte der Alterspräsident zunächst die jahrhundertelange Verfolgung der Jüdinnen und Juden und die deutsche Verantwortung als Lehre aus dem Holocaust. »Jüdinnen und Juden müssen weltweit endlich das Recht haben, dort, wo sie wohnen, gleichberechtigt wie alle anderen Bürgerinnen und Bürger zu leben und behandelt zu werden.« Sie hätten ein Recht auf einen jüdischen Staat, auf ein sicheres Zuhause. Israel müsse souverän, unabhängig und sicher sein und bleiben.
»Aber wir müssen auch an die Palästinenserinnen und Palästinenser denken. Sie haben auch ein Recht auf ein Zuhause.« Nur mit einem souveränen, unabhängigen eigenen Staat wäre man auch in der Lage, Terrororganisationen wie die Hamas und die Hisbollah zu überwinden, so Gysi. Es sei bedauerlich, dass die gegenwärtige Regierung in Israel und die gegenwärtige Mehrheit in der Knesset einen solchen Weg für die Palästinenserinnen und Palästinenser ausschlössen und glaubten, unter Inkaufnahme ziviler Opfer alles militärisch lösen zu können. »Und wir stehen aufgrund unserer Geschichte auch den Palästinenserinnen und Palästinensern gegenüber in einer besonderen Verantwortung.«
Linksfraktion, SPD und Grüne klatschten Beifall – der israelische Botschafter, der in der ersten Reihe der Ehrentribüne saß, wirkte weniger begeistert und beobachtete von oben aufmerksam, wer Gysis Plädoyer unterstützte.
Danach sprach Gysi noch über die Besteuerung von Tannenbäumen, Trump, Bürokratie, die DDR und das Sandmännchen.
Danach sprach Gysi noch über die Besteuerung unterschiedlicher Tannenbäume, kaputtgesparte Krankenhäuser, Donald Trump, Bürokratie, die DDR, das Sandmännchen und diverse andere Themen. Zum Schluss sagte der 77-Jährige: »Ich wünsche unserer Bevölkerung und uns einen lebendigen Bundestag, in dem ohne Beleidigungen, ohne Beschimpfungen, ohne Unfairness durchaus hart gestritten, diskutiert und entschieden wird, und ich wünsche uns einen Bundestag, der noch näher an die Menschen herantritt, die wir hier vertreten.«
Eine flammende Rede, die viele wohl erwartet hatten, war es nicht – vielleicht waren einfach die Erwartungen von vornherein zu hoch gesteckt. Die Reaktionen fielen entsprechend gemischt aus. Die Grünen-Politikerin Lisa Badum aus Bayern zeigte sich von der Rede nicht überzeugt. »Ich hatte mir eine humorvolle und weise Rede erwartet«, schrieb sie in einem Beitrag auf X. »Stattdessen trägt er langweilig einen bunten Strauß an parteipolitischen Themen vor wie in einer x-beliebigen Plenardebatte. Enttäuschend«, so die Abgeordnete.
Ausgerechnet der CDU-Politiker Peter Altmaier lobte Gysi. »Gerade eben hat Gregor Gysi Otto von Bismarck gewürdigt und die Benennung von Straßen nach ihm verteidigt. Für einen Sozialisten ein großer Sprung über den eigenen Schatten«, schrieb Altmaier in einem Beitrag auf X. Der CDU-Politiker Sepp Müller dagegen holte während der Rede demonstrativ ein Buch heraus und begann zu lesen. Es handelte sich um das Sachbuch »Die Täter sind unter uns« von Hubertus Knabe. Damit wollte Müller wohl Gysi dessen SED-Vergangenheit vorhalten.
Danach wählten die anwesenden 613 der insgesamt 630 Abgeordneten die CDU-Politikerin Julia Klöckner zur Bundestagspräsidentin[3]. Die Abgeordneten Andrea Lindholz (CSU), Josephine Ortleb (SPD), Omid Nouripour (Grüne) und Bodo Ramelow (Linke) wurden zu Klöckners Stellvertreterinnen und Stellvertretern gewählt. Für Ramelow reichte es mit 318 Stimmen knapp. Der AfD-Kandidat Gerold Otten fiel hingegen mit 185 Ja-Stimmen klar durch. 317 wären nötig gewesen.
Klöckner rief in ihrer Rede dazu auf, das von der Ampel-Koalition 2023 reformierte Wahlrecht nochmals so zu ändern, dass alle direkt gewählten Abgeordneten ein Mandat bekommen. Bei der jüngsten Bundestagswahl war dies bei 23 Kandidatinnen und Kandidaten nicht der Fall. Betroffen waren vor allem CDU-Bewerber.
Die CDU-Politikerin empfahl den Abgeordneten eine »offene Fehlerkultur«. Das könne helfen, verloren gegangenes Vertrauen in die Politik zurückzugewinnen. Klöckner sprach sich für eine Stärkung des Fragerechts im Bundestag aus und rief dazu auf, diesen familienfreundlicher zu gestalten. In Deutschland müsse die Stimmung wieder verbessert werden, sagte Klöckner. »Wir brauchen Optimismus und Zuversicht – dieser Optimismus-Ruck muss wieder durch unser Land gehen.«