nd-aktuell.de / 26.03.2025 / Wirtschaft und Umwelt / Seite 1

Es mangelt nicht überall

Es gibt auch Firmen, die sind übernachgefragt. Warum es für manche Stellen keine, eine oder zehn Bewerbungen gibt

Sebastian Haak
Frauen üben immer öfter typische Männerberufe aus: wie etwa die Abfallwerkerin Stephanie Höche.
Frauen üben immer öfter typische Männerberufe aus: wie etwa die Abfallwerkerin Stephanie Höche.

Wenn man Denise Held zuhört, kann es schon mal vorkommen, dass man sich fragt, in welcher Welt sie eigentlich lebt. Held sagt nämlich Sätze, die man schon seit Jahren so gut wie nie mehr hört, wenn man mit Menschen spricht, die in Unternehmen dafür zuständig sind, neue Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter einzustellen.

»Im Moment haben wir alle Stellen besetzt«, ist einer dieser Sätze. Oder: »Die Qualität der Bewerbungen ist in den vergangenen Jahren nicht schlechter geworden.« Oder: »Wir haben jetzt keine Bewerbung, bei der ich sagen würde, die Leute schreiben uns nur, weil sie nicht wissen, was sie machen sollen.« Denise Held kann auswählen, was nicht immer leicht ist. »Ich habe hier wirklich einen Stapel Bewerbungen liegen, und manchmal haben wir Schwierigkeiten, uns zu entscheiden, so gut sind die Leute.«

Held ist die Leiterin des Rettungsdienstes beim Deutschen Roten Kreuz (DRK) im Kreisverband Meiningen. Die Thüringerin sucht regelmäßig Nachwuchs für eine Branche, deren Beschäftigte seit Jahren am eigenen Leib erfahren, wie rau der Ton auf deutschen Straßen geworden ist. Rettungs- und Notfallsanitäter werden – ebenso wie Polizisten oder Feuerwehrleute – inzwischen regelmäßig beleidigt, bespuckt oder sogar tätlich angegriffen, während sie im Einsatz sind, um anderen Menschen zu helfen; oft genug geht es dabei um Leben und Tod. Ihr Job ist körperlich wie seelisch überaus fordernd. Und Schichtdienst ist in der Branche eher die Regel als die Ausnahme.

Trotzdem stapeln sich bei Held die Bewerbungen. Ab dem 1. September 2025 würde der DRK-Kreisverband gerne vier weitere Notfallsanitäter ausbilden. Ob das DRK das darf, wird gerade mit den Krankenkassen verhandelt. Sicher ist das noch nicht. Aber Interessenten gibt es schon jetzt zahlreiche für diese Stellen. Per Post sind nach Helds Angaben bereits 30 Bewerbungen eingegangen. »Und da sind die ganzen Bewerbungen per E-Mail noch nicht mitgerechnet.« Noch einmal mindestens 15 weitere Bewerbungen seien das.

Tatsächlich kommt es häufiger vor, als man zunächst glauben mag, dass Unternehmen für eine offene Stelle zwischen einer Vielzahl von Bewerbern auswählen müssen. Dabei wird seit etwa zwanzig Jahren überall in Deutschland davon gesprochen, dass es an allen Ecken und Enden zu wenig Personal gebe, um all die anfallende Arbeit zu erledigen.

Erst war vom »Fachkräftemangel« die Rede, nachdem ungefähr ab der zweiten Hälfte der 2000er Jahre die Massenarbeitslosigkeit abgeebbt war, die vor allem im Osten viele Jahre grassierte. Mittlerweile beklagen die Wirtschaftskammern und -Verbände allgemein einen »Personalmangel«. Soll heißen: Es fehlen nicht mehr nur gut ausgebildete Fachkräfte, sondern auch Menschen, die einfache Hilfsarbeiten verrichten. Diese Not nährt die Vorstellung, dass sich im Augenblick eigentlich jeder Interessent den Job frei aussuchen könne. Was aber nicht stimmt.

»Spengler sind wie Goldstaub.«

Andreas Schmuck Europa-Dach

Ein Blick auf die Zahlen der Agentur für Arbeit ergibt eine differenzierte Lage am Arbeitsmarkt. Davon zeugen die vielen Bewerbungen beim DRK-Kreisverband Meinigen – oder das Beispiel der Dachdeckerei Europa-Dach aus Zella-Mehlis im Landkreis Schmalkalden-Meiningen. Deren Geschäftsführer Andreas Schmuck sucht händeringend nach erfahrenen Fachkräften – Dachdecker, Zimmerer, Spengler. Er würde gerne Handwerker einstellen, die ihre Berufe von der Pike auf gelernt haben, die berufserfahren sind und einen Führerschein haben. Solche Fachkräfte sind schon lange schwer zu bekommen[1]. In seiner Branche, sagt Schmuck, seien insbesondere Spengler begehrt. »Die sind wie Goldstaub.« Jahrelang sei in diesem Beruf viel zu wenig Nachwuchs ausgebildet worden. An Quereinsteigern dagegen gibt es bei Europa-Dach keinen Bedarf mehr. Für die nächsten Jahre seien bei ihm alle derartigen Stellen besetzt, sagt Schmuck.

Bei der Agentur für Arbeit wundert man sich nicht über solche Aussagen. Die verzeichnet schon seit einigen Jahren in vielen Branchen einen deutlichen Überschuss an Bewerbungen, aber Fachkräfte fehlen weiterhin. Und diese Situation wird wohl anhalten, wie ein Blick auf den Ausbildungsmarkt[2] vermuten lässt.

Im vergangenen Jahr gab es in der Tierpflege zum Beispiel 1200 Bewerber auf 100 Stellen in Thüringen. In der Floristik waren es fast 700, in der Veranstaltungstechnik 425 Bewerber auf 100 Plätze. Die Liste von Ausbildungsberufen mit Bewerberüberschuss ließe sich lange fortsetzen. Aber es gibt auch Branchen, in denen nicht alle Ausbildungsplätze besetzt werden können: In der Hotellerie standen statistisch gesehen 64 Bewerber und in der Gastronomie 45 Bewerber für je 100 offene Stellen zur Verfügung. Bei Klempnern waren es 49 Bewerber für je 100 Ausbildungsplätze.

Aus dieser unübersichtlichen Situation lassen sich durchaus Schlüsse ziehen: So zeigt sich etwa, dass gerade für junge Menschen solche Berufe attraktiv sind, die sie bereits aus ihrer Lebenswelt kennen. Junge Menschen möchten zum Beispiel gerne in der Tierpflege oder der Pferdewirtschaft arbeiten, weil sie glaubten, dabei Ideale aus ihrer Kinder- und Jugendzeit verwirklichen zu können, sagt eine Sprecherin der Thüringer Landesarbeitsagentur. Hinzu kommt bei solchen Berufen ein Umstand, den die Statistiker gerne den »Fluch der kleinen Zahlen« nennen: Es gibt im ganzen Freistaat nur wenige solcher Stellen, sodass schon eine relativ kleine Zahl von Bewerbern dazu führt, dass es mehr Bewerber als Jobs gibt.

Das Muster – Bekanntheit von Berufen aus dem Alltag führt zu hohen Bewerberzahlen – zeigt sich auch bei Frisören oder bei Arzt- und Praxishelfern. Berufe, die gewöhnlich in Werkhallen ausgeübt werden und damit unsichtbar für junge Menschen sind, werden deutlich weniger nachgefragt. So gibt es eher wenige gewerbliche Berufe, die einen Bewerberüberschuss bei Ausbildungsstellen haben.

Bei Menschen, die ihre Ausbildung schon absolviert haben und als Fachkräfte nach einer Anstellung suchen, wird die Sache komplizierter. Bei ihnen kommt es natürlich auf die Verdienstmöglichkeiten an, aber auch auf die Arbeitsbedingungen, also ob der Job körperlich anstrengend und hektisch ist oder wie lang und flexibel die Arbeitszeiten sind. Diese Aspekte entscheiden maßgeblich darüber, ob es für eine Stelle keine, eine oder zehn Bewerbungen gibt.

Die Personalsituation im Rettungsdienst des DRK in Meiningen und bei Europa-Dach sind Beispiele dafür, dass zu diesen grundsätzlichen Annahmen noch ein weiterer Aspekt hinzukommt: Auch das Arbeitsklima in einem Unternehmen könne ausschlaggebend dafür sein, ob es gelingt, offene Stellen zu besetzen, das erklären sowohl Denise Held als auch Andreas Schmuck. »Der Rettungsdienst ist ja eine große Familie«, meint Held. »Man wächst zusammen.« Ob das Klima irgendwo gut oder schlecht ist, ob Vorgesetzte Vertrauen in ihre Mitarbeiter haben, wie der Umgangston ist, so etwas spreche sich schnell herum.

Schmuck sagt, ein gutes Miteinander innerhalb einer Baustellen-Crew sei für viele seiner Mitarbeiter inzwischen wichtiger als noch ein bisschen mehr Geld am Ende des Monats. »Das kennt doch jeder selbst: Wenn man ins Auto steigt, und einer ist dabei, der die ganze Zeit nur meckert und Frust schiebt, dann hat man doch selbst keine Lust mehr«, sagt er. Er findet es wichtig, dass sich jeder Mitarbeiter darüber im Klaren sei, dass er selbst einen Beitrag zu einem guten Arbeitsklima leisten kann.

Auch das Bereitstellen von moderner Technik könne einen Beitrag zur Arbeitszufriedenheit leisten, meinen sowohl Held als auch Schmuck. »Moderne CNC-Maschinen, neue Apps, gutes Werkzeug, solche Sachen«, sagt Schmuck. »Moderne Autos, vernünftige EKG- und Beatmungsgeräte«, sagt Held. Immerhin will sich ja niemand darüber ärgern, dass er nicht gute Leistungen in seinem Job bringen kann, nur weil er mit veralteter Technik hantieren muss.

All das ändert aber nichts an den langfristigen gesellschaftlichen Veränderungen. Die Demografie ist erbarmungslos[3], insbesondere im Osten Deutschlands, wo während der Umwälzungen der 1990er Jahre viele Tausende vor allem junge Frauen das Gebiet der ehemaligen DDR verließen und nun ihre Kinder andernorts großziehen. Diese Menschen fehlen jetzt. Auch der sich bereits vollziehende Abschied der Boomer-Generation aus dem Arbeitsleben stellt überall in Deutschland eine gewaltige Herausforderung dar. Für viele Unternehmen wird es auch künftig schwer sein, passendes Personal zu finden.

Links:

  1. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1188815.arbeitsmarkt-xenophobie-schreckt-arbeitskraefte-ab.html
  2. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1189501.arbeitsmarkt-ausbildung-in-berlin-herrenlose-lehrjahre.html
  3. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1189254.demografie-und-arbeitsplaetze-bevoelkerungsrueckgang-neue-welle-im-osten.html