Frau Mutlu migrierte in den 70er Jahren aus der Türkei nach Deutschland. Mittlerweile ist sie 76 Jahre alt, lebt finanziell prekär und kümmert sich alleine um ihren an Demenz erkrankten Sohn. Von unterstützenden Möglichkeiten wie beispielsweise der Beantragung von Pflegediensten weiß sie nichts. Ihr fehlen soziale Ressourcen und Wissen um Versorgungsstrukturen.
Ein Fallbeispiel aus dem Anfang des Jahres erschienenen Neunten Altersbericht der Bundesregierung. »Frau Mutlu würde normalerweise nicht auffallen, sie wäre unsichtbar«, sagt Hürrem Tezcan-Güntekin. Sie beteiligte sich zum Querschnittsthema Intersektionalität, also der Verschränkung diverser Unterdrückungsmechanismen, am Altersbericht. Erstmals geht es im Bericht explizit auch um das Zusammenwirken von Teilhabe, Alter, Migration und Rassismus[1]. Das zeigt besondere Herausforderungen auf, wie der Fall von Frau Mutlu beweist.
Eines der primären Ergebnisse des Altersberichts, so Tezcan-Güntekin bei einer Fachtagung zu der Landesvereinigung für Gesundheit und Akademie für Sozialmedizin Niedersachsen: »Erst im Alter zu intervenieren, ist zu spät. Diversitätsgerechte Politik muss schon sehr viel früher ansetzen[2] und gesamtgesellschaftlich auf unterschiedlichen Ebenen agieren.«
»Erst im Alter zu intervenieren, ist zu spät. Diversitätsgerechte Politik muss schon sehr viel früher ansetzen.«
Hürrem Tezcan-Güntekin
Neunte Altersberichtskommission
Die Exklusion aus diversen gesellschaftlichen Bereichen schlägt sich auch in Statistiken nieder. Laut Berechnungen auf Basis von Daten des Sozio-ökonomischen Panels aus dem Jahr 2020 haben Frauen mit Migrationskontext mit Abstand die niedrigsten Rentenbezüge in Deutschland. Sie erhalten 632 Euro im Monat, Männer mit Migrationskontext 1308 Euro. Frauen ohne Migrationsgeschichte beziehen dagegen 1056 Euro und Männer ohne Migrationsgeschichte im Schnitt 1797 Euro im pro Monat.
Ähnlich verhält es sich mit dem Armutsrisiko. Das liegt bei Menschen mit Migrationskontext ab 65 Jahren bei 35 Prozent, bei 65-Jährigen ohne Migrationsgeschichte bei elf Prozent. Laut Hochaltrigenstudie haben derzeit 20 Prozent der Menschen über 80 Migrationserfahrung.
Ein Grundproblem bei der Erforschung der Lebenssituation älterer Menschen mit Migrationkontext sei, so Tezcan-Güntekin, dass es nur wenige Daten zu ihnen gebe. Deswegen habe sie sich über die große Bereitschaft gefreut, das Thema zu bearbeiten. Es wäre aber noch schöner, wenn man sich über diese Bereitschaft nicht freuen müsste, weil sie bereits selbstverständlich wäre, ergänzt sie. Die Politik müsse deswegen noch mehr Verantwortung übernehmen, fordert Tezcan-Güntekin und zitiert die Literaturnobelpreisträgerin Toni Morisson: »Die ernste Funktion von Rassismus ist die Ablenkung.«
Für »echte« Teilhabe und Partizipation engagiert sich Anwar Hadeed seit den 90er Jahren. Er ist Geschäftsführer der Arbeitsgemeinschaft Migrantinnen, Migranten und Flüchtlinge in Niedersachsen (AMFN e.V.). Hadeed erinnert an die Gründung des Vereins im Jahr 1993, als Menschen mit Migrationsgeschichte stets »Defizitzuschreibungen« begegnet seien. »Damals ging der politische Auftrag an Wohlfahrtsverbände, uns zu befähigen, unsere Lebensweise zu gestalten. Das ist europäische Überheblichkeit«, sagt er.
Die Mitglieder von AMFN e.V. wollten Teil und nicht nur am Rande der Gesellschaft sein: »Wir wollten die Abkopplung von Zugehörigkeit von Biologie oder Ethnie.« Dem hätten sie sich auch immer mehr angenähert, inzwischen seien 60 Vereine Mitglied der AMFN. Der letzte Bundestagswahlkampf habe jedoch Spuren hinterlassen. »Jeder Nicht-Biodeutsche hat nun das Gefühl, für alles verantwortlich gemacht zu werden, was schiefläuft. Viele überlegen, das Land wieder zu verlassen«, erzählt Hadeed.
Dabei könnten gerade sie mit ihren vielfältigen Erfahrungen eine Bereicherung darstellen, auch für die Senior*innenarbeit, zeigt er sich überzeugt. Ähnlich sieht das Sangita Popat von der Bundesarbeitsgemeinschaft der Seniorenbüros, die bundesweit das freiwillige Engagement älterer Menschen fördern.
Sie selbst werde in ihrem beruflichen Alltag zwar nicht mehr gefragt, wo sie »ursprünglich herkomme«, ordnet sie den Status Quo in der Seniorenarbeit ein – aber würde zum Beispiel zu unpassenden Zeitpunkten gefragt, wo man »gut indisch essen« könne. Soll heißen, Rassismus ist nicht überwunden, sondern wandelbar. »Es gibt Seniorenbüros, die haben keinen Kontakt zum Integrationsamt. Das wäre ein Ansatz, um mehr Bewusstsein zu schaffen«, schlägt sie vor.
Dem Altersbericht zufolge wäre eine Möglichkeit, Ungleichheit im Alter zu verringern, freiwilliges Engagement zu fördern. Dabei müsste jedoch auch das Narrativ des Ehrenamts überdacht werden. Menschen aus Migrationskontexten betätigen sich häufig in den eigenen Netzwerken und werden so in klassischen Strukturen unsichtbar. Ein weiterer Vorschlag wäre, Altershilfestrukturen diversitätssensibel zu gestalten. Popal ergänzt, gerade in politisch eher »gruseligen Zeiten« wie jetzt sei es außerdem wichtig, »in der Verbündetenarbeit politisch Stellung zu beziehen«.