Beim Öffnen der Ladentür scheppert die Glocke laut und eindringlich. Ladendiebe hätten es schwer. Es riecht nach altem Mobiliar und vergangener Blütezeit, süßlich, verstaubt und einladend. Und natürlich nach der berühmten Zitronenseife. Die ist bis heute der Verkaufsschlager der Apotheke. Patrick Joseph Murphy steht im weißen Kittel und mit dunkler Fliege hinter dem Tresen von »Sweny«. Jeder kennt ihn nur als PJ. Er und andere Freiwillige wie Förderer unterhalten den kleinen Laden in Eigenregie. Zur Begrüßung gibt es erst einmal kräftigen schwarzen Tee mit Milch und Zucker.
»Der Laden ist so berühmt, weil Bloom im fünften ›Ulysses‹-Kapitel von seiner reizenden Frau Molley hierher geschickt wird«, erklärt PJ. »Er soll ihre Gesichtscreme kaufen. Und da Bloom ein typischer Ehemann ist, vergisst er das Rezept.« Also muss der Apotheker in seinem Rezeptbuch nachschlagen. »Und dabei beschreibt Leopold Bloom, wie die Apotheke aussieht.«
»Sweny« liegt am Lincoln Place in unmittelbarer Nachbarschaft zum berühmten Trinity College. Ein kleiner unscheinbarer Laden, nicht größer als ein Wohnzimmer. Das viktorianische Gebäude stammt aus dem Jahr 1847. Die Apotheke unter dem Namen »F.W. Sweny and Co« eröffnete ein paar Jahre später. Das Interieur ist seitdem kaum verändert worden, und der Besuch gleicht einer Zeitreise ins 19. Jahrhundert, als Irland noch unter britischer Herrschaft stand und Königin Viktoria auf dem Thron saß. Damals prägten Hungersnöte, Armut und massive Auswanderung die irische Gesellschaft.
Heutzutage ist »Sweny« eine Mischung aus Secondhand-Buchhandlung, Laden für Joyce-Devotionalien, Museum und Treffpunkt für »Ulysses«-Fans aus der ganzen Welt. Die Inneneinrichtung ist noch immer aus dem 19. Jahrhundert. Auf den Holzregalen stehen aneinandergereiht die originalen braunen und bernsteinfarbenen Flaschen und Flakons mit den vergilbten Etiketten. In den Schubladen liegen angegraute Pillenschachteln, deren Verfallsdatum seit mindestens ein paar Jahrzehnten überschritten ist. Eine Patina des Verfalls schwebt über all den Gegenständen. Alles scheint noch so wie von Joyce beschrieben.
Dass all das bewahrt werden konnte, sei Zufall gewesen, erzählt PJ, Folge einer Nachlässigkeit. Als der Mietvertrag der letzten Besitzerin 2009 auslief, ließ sie Schränke und Flaschen einfach zurück. Ein Umbau des Ladens kam nie zustande, weil zu dieser Zeit die Finanzkrise Irland fest im Griff hatte. Stattdessen boten sich ein paar Dubliner Joyce-Freunde an, die Apotheke ehrenamtlich zu übernehmen – und vor dem Verfall zu retten. Die Mietzahlungen von 500 Euro pro Woche können durch Buchverkäufe, vor allem aber durch Spenden gedeckt werden.
Ist der Laden eine Art kulturelles Heiligtum? »›Sweny‹ ist eher ein Schrein für frühviktorianische Architektur – und zugleich ein Heiligtum für Joyceaner«, antwortet PJ. Herzstück sind die täglichen Joyce-Lesungen. Heute stöbern junge Leute aus Malaysia im Laden, aber sie sind viel zu schüchtern, um selbst vorzulesen. Ein junger Mann aus Deutschland, der am Trinity College studiert, übernimmt die Aufgabe und schlägt eine voluminöse deutschsprachige »Ulysses«-Ausgabe auf.
Es um geht Spaß am Fabulieren. Jeder stolpert mal über ein unbekanntes Wort, was die Vorleserei entspannter macht. Gelacht wird viel – vor allem bei gälischen Wörtern, bei denen niemand weiß, wie man sie ausspricht. Jeder liest abwechselnd eine Seite. Das ist das Geheimnis der Lesungen: Hier versammeln sich Menschen aus der ganzen Welt. Jeder liest so gut er kann, schwärmt JP, der selbst mehrere Sprachen spricht und »Ulysses« schon knapp 90 Mal gelesen haben will. Besonders betriebsam werde es immer am 16. Juni, am Bloomsday. Dann träfen sich alljährlich Joyce-Liebhaber. Natürlich auch, um bei »Sweny« die berühmte Seife zu kaufen. Aber die kann man sogar online bestellen und sich zuschicken lassen.
Neben dem wohlriechenden Zitruskörpermittel ein Must-Do für alle Joyce-Fans: ein Bad in der eiskalten Dubliner Bucht am Felsvorsprung Forty Foot. Die Klippen befinden sich zwölf Kilometer vom Zentrum Dublins entfernt im Dorf Sandycove. Das beliebte Ausflugsziel liegt an der Irischen See – und ist berühmt für das James-Joyce-Museum: ein Wehrturm aus der napoleonischen Zeit, umgeben von zweieinhalb Meter dicken Mauern. 1962 als Museum eröffnet, gibt er von oben einen herrlichen Blick auf die Umgebung frei. Einfamilienreihenhäuser, Kormorane, Palmen, eine Badebucht mit Rettungsschwimmern im Sommer – eine Idylle, in die sich kaum Touristen verirren. Zwischen den Wellen des Meeres glitzern bunte Badekappen. Es sind Dubliner, die – zu jeder Jahreszeit – in der eiskalten See schwimmen, während Kegelrobben daneben verdutzt aus dem Wasser schauen. Wer hier wen beäugt, das lässt sich nicht eindeutig entscheiden.
Drinnen im renovierten Martello-Turm findet man eine Joyce-Gitarre ausgestellt, sein Zigarrenetui samt Jagdweste und Spazierstock, alles original, seine Totenmaske, Nachttopf, Schlips, Geldbörse und Reisekoffer. Joyce verbrachte nur wenige Tage an diesem Ort. Heutzutage ist der Martello-Tower im Besitz des irischen Staats und wird von der James-Joyce-Stiftung verwaltet. Im ersten Stock hat man den Arbeits- und Schlafraum nachgestellt. Alles sorgsam arrangiert und nach der Covid-19-Pandemie neu restauriert – der rührende Versuch, das Universum des James Joyce wieder einzufangen.
Alljährlich wird Bloomsday [1]von den Dublinern geradezu zelebriert. Dann fahren blank geputzte Oldtimer durch die Straßen. Am Steuer sitzen Herren mit schwarzen James-Joyce-Hüten und einer Fliege um den Hemdkragen. Oder sie »verkleiden« sich wie Maite Lopez-Schröder, mit der wir uns auf einem Stadtgang verabredet haben. »Zusammen mit Freunden haben wir uns mehrere Jahre lang als Healy’s Men angezogen«. Das sind Männer, die in »Ulysses« beschrieben werden und als eine Art lebende Werbung durch die Stadt gehen. »›Healy’s‹ war ein Papierwarenhändler«, erklärt die Autorin und Wahl-Dublinerin. Zusammen mit ihrem Mann hat sie ein ganz besonderes Buch geschrieben: »Joyce for Dummies«.
103 Jahre nach dem Erscheinen von »Ulysses« stehen dicht gedrängt vor den Dubliner Pubs »Joyceaner«: Die Frauen tragen enge Kleider, die bis zu den Knöcheln reichen – ganz der Mode Anfang des 20. Jahrhunderts entsprechend –, dazu mit Blumen verzierte riesige Strohhüte und Sonnenschirme; die Männer mit einer runden Brille auf der Nase. Anschließend geht es auf einen Stadtrundgang, zu einer Lesung, einer Fahrrad- und Bustour, einer Theater- oder Filmvorführung, erklärt der Journalist und überzeugte »Ulysses«-Fan Senan Molony: »Im Buch sind sage und schreibe 400 Gewerbebetriebe und Gebäude aufgeführt.« Dadurch entstehe ein außergewöhnlich detailliertes Bild der Stadt. Zum Glück sehe Dublin noch immer ein wenig wie zu Joyces Zeit aus, sagt der Journalist vom »Irish Independent« – trotz aller Veränderungen im vergangenen Jahrhundert.
Dublin 2025, das ist auch eine Metropole mit Telekommunikationsfirmen und kontinentalen Preisen, Cappuccino to go, gesichts- und geschichtslosen Fast-Food-Ketten und Spielhallen. Anfang der 90er Jahre ging es für Irland bergauf – vom europäischen Sorgenkind zum »Celtic Tiger«. Ein neues irisches Selbstbewusstsein entstand. Und das Symbol dafür war und ist der »Spire of Dublin«: die 120 Meter hohe Hochhausnadel in der O’Connell Street im Herzen der Hauptstadt.
Die Straße hat sich zur verkehrsberuhigten Flaniermeile verwandelt. Kneipen, Boutiquen und Banken reihen sich an Imbissstuben, Kaufhäuser und Spielkasinos. Eine Stadt, die genauso vom Verkehrsinfarkt gefährdet ist wie andere Großstädte. Viele Häuser, die früher leer standen, notdürftig verrammelt, werden renoviert. Geschäftsleute drängeln sich vorbei an Touristen und Jugendlichen. Ärmlich gekleidete Rentner, Obdachlose und Drogenabhängige stehen daneben. Mit dem Wohlstand sind auch die Schattenseiten westlicher Urbanität aufgetaucht.
Seit 2010 schmückt sich die irische Hauptstadt mit dem Unesco-Titel »Stadt der Literatur«. Dublin preist das Erbe intensiv – und hat zudem mit dem 2019 eröffneten Museum of Literature[2] seinen Dichtern ein außergewöhnliches Denkmal gesetzt. Zwar gibt es fast keine originalen Ausstellungsstücke und Artefakte zu bewundern. Dafür setzen die Macher auf interaktive und immersive Erfahrungen. Dazu gehören multimediale Präsentationen, beispielsweise können Besucher auf einem interaktiven Tischdisplay die Entstehungsgeschichte von »Dracula« und »Ulysses« erkunden.
Dabei wird Leopold Blooms Streifzug durch Dublin an jenem warmen Frühjahrstag 1904 digital bis ins kleinste Detail nachprüfbar. Joyce hatte mit beeindruckender Genauigkeit Dublins Straßen und Häuser beschrieben, Parks, Restaurants – und Geschäfte. Er plane in seinem Roman ein dermaßen vollständiges Bild Dublins zu geben, so Joyce, dass die Stadt, sollte sie einmal vom Erdboden verschwinden, nach dem Buch rekonstruiert werden könne.
Zum Beispiel »Brown Thomas«: »Seidenhändler, Kaskaden von Bändern. Dünne China-Seiden«, heißt es in »Ulysses«. Das Geschäft gibt es noch immer in der Grafton Street, der größten und zugleich teuersten Konsummeile in Dublin. Die Erben des Seidenhändlers waren erfolgreich und haben eine Kaufhauskette gegründet. An ihrem Laden findet man, wie überall in der Stadt, kleine Bronzetafeln – Schilder, die Auskunft darüber geben, welche Szene aus »Ulysses« an diesem oder jenem Ort spielt und wann sich Leopold Bloom hier aufgehalten hat.
Nicht weit von der Grafton Street entfernt befindet sich »Ulysses Rare Books«. Lange Zeit lag im Fenster der Buchhandlung eine der wenigen Erstausgaben des Romans. Dann wurde sie für 30 000 Euro verkauft. Späte Wiedergutmachung an einen unbequemen Patrioten: Jahrelang konnte man »Ulysses« nach seinem Erscheinen im Jahre 1922 in keiner irischen Buchhandlung kaufen. Der Roman galt als anstößig, pornografisch.
Weiter geht es zu »Davy Byrne’s« in der Duke Street im Herzen der Stadt – eine der berühmtesten Dubliner Kneipen. Joyce lässt auch hier einige Szenen aus »Ulysses« spielen. Das Sandwich kann man bei »Davy Byrne’s« noch immer essen. Und natürlich ein Pint Guinness trinken.
Nur wenige Gehminuten vom Stadtzentrum entfernt liegt das James Joyce Centre. Die aristokratische Stadtvilla aus dem 18. Jahrhunderts wurde in den 1980ern restauriert. Im Erdgeschoss findet gerade die Probe einer Theatergruppe statt. Es treffen sich Lesegruppen, um »Ulysses« auf die literarische Spur zu kommen. Während der Pandemie wurden Vorträge und Lesungen online abgehalten – mit weltweitem Publikum, sagt Darina Gallagher stolz, Direktorin des James Joyce Centre. Sie erzählt, dass häufig die Frage gestellt werde: Warum ist »Ulysses« 103 Jahre nach seiner Veröffentlichung immer noch wichtig? »Ich glaube, das Buch eröffnet einen Dialog über so viele Themen, mit denen wir uns in Irland erst jetzt beschäftigen: Kinderarmut zum Beispiel oder die Geschlechterfrage. Denken Sie an die politischen Herausforderungen für Irland. Joyce bietet uns mit ›Ulysses‹ ein Forum für all diese Debatten.«
Manchmal müsse sie lachen, sagt Gallagher. Bloomsday sei so etwas wie ein intellektueller St. Patrick’s Day geworden. Die Stadt musste etwas Neues finden, um sich verkaufen zu können. Und zugleich entbehre es nicht eines gewissen Witzes, denn das Buch hätten ja vermutlich nur die wenigsten wirklich gelesen. Was ihr daran gefalle? »Ulysses« ermögliche eine wunderbare Art zu feiern. Sie würde sich freuen, wenn Besucher nach Dublin kämen, um den Humor des Buches zu erleben, das Essen, die Kneipen, die Gerüche, den Fluss und das Meer.
Vielleicht wird sich Direktorin Gallagher am nächsten 16. Juni im Joyce Centre das berühmte Bloomsday-Frühstück servieren lassen. Blooms Leib-und-Magen-Speise besteht aus Insekten nebst gegrillten Hammelnieren. Zum Glück haben die Organisatoren schon dieses Jahr an alles und alle gedacht: Für Vegetarier gibt es ein fleischloses Frühstück zum Guinness.
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/1190138.irland-ulysses-wird-dublin-feiert-james-joyce.html