Die Krebserkrankung eines Kleinkindes [1]bringt betroffene Familien in größte Not. Spezialisten werden gesucht, die Eltern wollen das Kind möglichst oft im Krankenhaus betreuen, Geschwister brauchen ebenfalls Aufmerksamkeit. Der Verlauf der Therapien wird voller Hoffnung und mit nicht wenig Angst verfolgt. Erwerbsarbeit kann zur Nebensache werden. War etwa die Chemo von Erfolg gekrönt und kommt die Krankheit in den nächsten Jahren nicht zurück, kommt das Leben wieder auf normale Bahnen. Aber die Ruhe täuscht: Schlechte Nachrichten kommen nicht von der regelmäßigen Kontrolluntersuchung, sondern womöglich aus ganz anderer Richtung.
Das früher erkrankte Kind oder der schon lange genesene Jugendliche steht eigentlich schon im Berufsleben oder am Anfang davon. Plötzlich geht es nicht mehr weiter: Da ist eine bestimmte Ausbildung – etwa bei der Polizei – doch nicht möglich, weil in der Gesundheitsprüfung die alte Diagnose und Erkrankung als Ausschlusskriterium gewertet wird. Oder eine Zusatzkrankenversicherung wird aus dem gleichen Grund nicht ermöglicht. Solche und ähnliche Botschaften erhalten viele Krebsüberlebende. Jährlich erkranken in Deutschland etwa 2300 Kinder und Jugendliche neu in diesem Spektrum. Insgesamt gibt es bereits mindestens 40 000 Überlebende, die mit diversen Benachteiligungen rechnen müssen, und diese Gruppe wächst schnell weiter, auch weil es gerade bei Krebs im Kindersalter häufig gute Heilungsaussichten gibt. Über die Diskriminierungsvarianten informierten jetzt die Organisationen Survivor Deutschland e.V. und die Deutsche Kinderkrebsstiftung – und fordern für Betroffene ein »Recht auf Vergessenwerden«.
Eine kleine Umfrage von Survivor hatte 2024 ergeben, dass die Hälfte aller Befragten schon Benachteiligungen durch Versicherungen erlebt haben. Unter anderem wurden Menschen bei Verbeamtung nicht in die private Krankenversicherung aufgenommen oder müssen dort hohe Risikozuschläge zahlen. Oder sie konnten keine Berufsunfähigkeitsversicherung abschließen.
Insgesamt mehr als ein Drittel der Befragten wurden am Arbeitsplatz oder in der Ausbildung diskriminiert. Einzelnen wurde auch das Recht verwehrt, ein Kind zu adoptieren – mit der Begründung des prüfenden Jugendamtes, dass es »keine langfristige Zukunft für den Elternteil« gebe.
Laut einer Umfrage von 2024 hat die Hälfte aller Befragten schon Benachteiligungen durch Versicherungen erlebt.
»Die meisten Diskriminierungen gab es jedoch mehr als fünf Jahre nach der Diagnose«, sagt die Kinderhämatologin Ulrike Hennewig. Nach einem solchen langen Zeitraum glichen aber Überlebensraten bei einem Rückfall denen der Allgemeinbevölkerung, wenn hier ein neuer Krebsfall auftrete, schätzt die Spezialistin von der Uni-Klinik Gießen aus medizinischer Sicht ein. Für die beiden genannten Organisationen gibt es demnach keine medizinische Grundlage für eine Unterscheidung von früher Krebserkrankten und dem Rest der Bevölkerung. Den Krebs einfach zu verschweigen, ist keine gute Option: Wenn Gesundheitsfragen nicht wahrheitsgemäß beantwortet werden, kann zum Beispiel ein Versicherungsvertrag ungültig werden.
Rein rechtlich sind die Aussichten für ein Recht auf Vergessenwerden nicht ganz so schlecht, etwa mit Artikel 2 des Grundgesetzes, in dem ein allgemeiner Persönlichkeitsschutz und das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit festgeschrieben sind. Auch das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz[2] und die Diskriminierungsfreiheit laut Grundgesetz könnten in Anspruch genommen werden. Im EU-Recht gibt es schon explizit ein Recht auf Vergessenwerden, nämlich in einer Richtlinie von 2023, die aber noch in nationale Bestimmungen umgesetzt werden muss.
Genau diese Richtlinie sollte in Deutschland zum Vorbild genommen werden, meint Felix Pawlowski von der Deutschen Stiftung für junge Erwachsene mit Krebs. »Wir wünschen uns ein solches Recht nach fünf Jahren Rezidivfreiheit«, erklärt er. Diese Zeit ohne Rückfälle, nach der es Diskriminierungen wegen der Erkrankung nicht mehr geben darf, ist in einigen EU-Ländern bereits geregelt. Ein Gesetz zum Recht auf Vergessenwerden nach fünf Jahren gibt es zum Beispiel in Frankreich, Spanien und Belgien. In Rumänien und Slowenien gelten sieben bis acht Jahre, in Italien, den Niederlanden und Portugal zehn Jahre. Dänemark, Irland, Tschechien und Griechenland haben zumindest einen Verhaltenskodex für den Umgang mit früheren Krebspatienten. Die übrigen EU-Staaten – wie auch Deutschland – haben hier noch nichts geregelt.
In einem Positionspapier fordern Survivor Deutschland und die Kinderkrebsstiftung unter anderem das Recht auf Vergessenwerden für die Langzeitüberlebenden von Krebs nach fünf Jahren. Außerdem sollte das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz überarbeitet werden, um so Risikobewertungen von Versicherungen verpflichtend transparent zu machen. Auch dürften bei Adoptionsbemühungen[3] Wunscheltern nicht mehr benachteiligt werden. Unterstützt werden diese Anliegen auch von zwei onkologischen Fachgesellschaften.
In den letzten Monaten hatten Vertreter der Organisationen bereits begonnen, in diesen Fragen das Gespräch mit Bundestagsabgeordneten zu führen. Laut Felix Pawlowski war dabei schon zu bemerken, dass es einen gewissen Unwillen gab, Versicherungsunternehmen zu reglementieren. »Es ist uns dabei durchaus bewusst, dass die Regelungen nur eine quantitativ sehr kleine Gruppe betreffen.« Aber es müsse auch nichts neu erfunden werden. Zwar sei das Thema den Abgeordneten jetzt bekannt, aber bis auf eine Positionierung seitens der Jusos gebe es noch keine Äußerungen von anderen Parteien dazu.