nd-aktuell.de / 07.04.2025 / Kultur / Seite 1

Prozess gegen Daniela Klette: Auf der Treibjagd

Cold Case RAF? Der Prozess gegen Daniela Klette

Karl-Heinz Dellwo
Einsatzkräfte der Polizei vor dem Oberlandesgericht Celle
Einsatzkräfte der Polizei vor dem Oberlandesgericht Celle

Sie gilt, so wurde Dr. Annette Marquardt 2015 bei der Überreichung einer ministeriellen Dankesurkunde von der damals leitenden Oberstaatsanwältin Gresel-Appelbaum freundlichst bedacht, als »ein großer Glücksfall für die Staatsanwaltschaft Verden«. Sie gilt auch als Cold-Case-Ermittlerin.

Heute sitzt sie mit der stellvertretenden leitenden Oberstaatsanwältin Dr. Katharina Sprave im Hochsicherheitsgerichtssaal des Oberlandesgerichts in Celle als Anklägerin gegen Daniela Klette. Sie gilt als temperamentvoll und aus Berichten weiß man: Wenn sie in eine zu durchsuchende Wohnung stürmt im Rahmen der Fahndung nach Burkhard Garweg, dann bricht es an der Haustürschwelle manchmal schon überfallartig aus ihr heraus: »Wo ist er?« Sie setzt bei dem legal Überfallenen auf Überrumpelung.

Auch reckt sie manchmal bei Zeugenbefragungen schnell und ruckartig, jede Distanzschwelle überschreitend, den Kopf nah an den des Delinquenten und bohrt ein »Sie wissen mehr!« schon fast körperlich in ihn hinein. Die Mauer des Gegenübers soll weichen, um ihn wehrlos zu machen.

Auch in der Anklagevertretung scheint sie der aktivere Teil zu sein gegenüber Daniela Klette. Jedenfalls liest sie von 13 vorgetragenen Straftatbeschuldigungen elf selbst vor mit einer monotonen Stimme, stehend selbstverständlich, denn bei der Anklage steht der Staat, während die Anwälte bei ihren Gegenanträgen sitzen. Schwarze Haare, schwarzer Talar, im schlechten Licht des fensterlosen Saales, in dem fast jedes Gesicht grau wird, könnte man an eine Figur aus irgendeinem Film noir denken, eine gewisse Härte als auch Desillusionierung ausstrahlend, denn dem Bösen geht, wie man weiß, nie die Puste aus.

Aber auch, wenn man irgendwie an einen Raben denkt, wenn man sie da so stehen und mit heller Stimme eine Beweisführung vortragen sieht wie das Picken auf der harten Schale einer noch zu knackenden Nuss, so fällt doch das Bedürfnis nach einem kleinen optischen Kontra auf: Als sie am Tag der Prozesseröffnung durch den Saal geht, sieht man sie in roten Schuhen. Auch am zweiten Prozesstag ist sie damit geschmückt. Schwarz-Rot, was für ein Outfit!

Ob sie weiß, dass sie im Lieblingsdesign der Anarchisten herumläuft? Macht und Anarchie liegen gar nicht so weit auseinander, wenn man an jenen Satz des Herzogs von Blangis aus Pasolinis »Salò« denkt, mit dem jener beansprucht, dass sie die wirklichen Anarchisten seien, »natürlich erst dann, wenn die Macht im Staate uns gehört. Tatsächlich ermöglicht erst die Macht die Anarchie«. Frau Dr. Marquardt weiß die Staatsmacht auf ihrer Seite, sie drückt sich geradezu durch sie aus.

In den RAF-Prozessen hatte die politische Justiz früher die Macht der freien Hand. Ob Anwaltsausschlüsse, Abhören der Verteidigung, heimliche Vorabsprachen mit den Revisionsinstanzen, notorisches Ablehnen aller Kontext herstellenden Anträge der Verteidigung – im Feindverhältnis, angeführt von der Bundesanwaltschaft, konnte man hemmungslos sein. Ein Hauch von Anarchie durchzieht auch die Anklageschrift aus Verden, wie Rechtsanwalt Ulrich von Klinggräff minutiös, manchmal fast schon zu ausführlich, in seinem Einstellungsantrag begründet.

Es wird gemixt, wie es gerade passt. Während nach außen Frau Dr. Marquardt erklärt, es gehe hier nur um Straftatbestände im Bereich von Geldraub, versucht sie überall, wo ihr die sachlichen Beweise fehlen, die Lücken mit Gesinnung zu füllen. Es folgt der Erzählung: So war es bei der RAF üblich. Ihre ganze Anklageschrift ist von Bezügen auf eine angebliche RAF-Mentalität, die schon damals fiktiv war, durchzogen, in der alle rücksichtslos von der Waffe Gebrauch machen und mit einer ständigen Tötungsbereitschaft durch die Gegend laufen. Das muss sie in Stellung bringen gegenüber einer Angeklagten, die sich, wie man weiß, trotz einer Wohnung mit einigen Waffen friedlich hat abführen lassen.

Es geht ihr augenscheinlich darum, der Angeklagten Daniela Klette eine Mordabsicht anzuhängen und ihr mit lebenslänglicher Haft zu drohen. Am zweiten Prozesstag rechtfertigt sich Frau Dr. Marquardt gegen die entsprechenden Vorwürfe der Verteidigung damit, dass sie der Angeklagten ja angeboten habe, mit ihr zu sprechen, damit sie auch entlastende Beweise aufgreifen kann. Als gäbe es nicht das Recht der Angeklagten, einfach zu schweigen und gerade gegenüber der Staatsanwaltschaft keine Aussagen zu machen. Hinter der Drohung »Tötungsabsicht« steckt zweifellos der Pressionsversuch, der Angeklagten Aussagen abzunötigen, ihr eine Kooperationsbereitschaft aufzuzwingen, an deren Ende ein Tauschgeschäft steht: Aussage gegen Strafmilderung. Es folgt dem Spiel »Der Preis ist heiß«.

Wie weit das gehen kann, hat man unter anderem an den ehemaligen RAF-Mitgliedern gesehen, die in der DDR untergekommen waren. Egal an welchen RAF-Aktivitäten sie beteiligt waren, sie waren, nachdem sie sich alle gegenseitig belastet hatten, nach einer überschaubaren Zeit wieder »draußen«, zumindest schon im offenen Vollzug. Das Selbst des Staates ist immer fraglich, besonders in krisenhaften Zeiten. Besonders im Fall einer 30-jährigen erfolglosen Fahndung. Dieses Selbst, das das Selbst der politischen Eliten, der Institutionen, aber auch eines großen Teils der staatshörigen Bevölkerung ist, benötigt immer den Verrat der anderen als politisches Viagra, der immer der Verrat an sich selbst ist. Das ist hier in der BRD das Kontinuum: Hier hat die Elite, auch »das Volk« in der Geschichte regelmäßig Eide geschworen und sie kurz danach wieder vergessen beziehungsweise durch andere Eide ersetzt. Mit den Eiden ist das so wie mit den Währungen: von der Reichsmark zur D-Mark und von dort zum Euro – wer denkt noch an den Wert der vergangenen papiernen Lappen, wenn ihr mystischer Inhalt verflogen ist?

Ein Hauch von Anarchie durchzieht die Anklageschrift aus Verden.

Es geht nicht um »Wahrheit«, was immer das sein soll, in einem Konflikt zwischen Souveränitätsansprüchen. Um diesen Konflikt ging es zwischen RAF und Staat von beiden Seiten und damit um den Kampf, auf welche Grundlage wir unsere kollektive Existenz stellen; es geht von Seiten des Staates immer nur um den Verrat. Hier darf niemand zu etwas stehen. Wer zu etwas steht, greift an, könnte man sagen. Schon das ist ein Akt des Terrors. Wer dagegen verrät, ist zerstört und damit gefahrlos. Macht funktioniert, wie wir von Foucault wissen, durch Disziplinierung und Geständniszwang. Wir kennen es alle aus George Orwells »1984«, wo sich am Ende Winston und Julia gegenseitig verraten und Winston nüchtern feststellt: »Sie hatten sich verraten. Schließlich war das der Sinn der Folter, dachte er – nicht nur, dass man stirbt, sondern dass man vorher gebrochen wird.«

Das ist der Kampf, den Frau Dr. Marquardt führt: Der Täter/die Täterin ist am Ende ein Nichts. Der Staat dagegen in triumphaler Stärke. Das ist eine Sucht, die nie befriedigt ist. Lina E. bekommt fünf Jahre und drei Monate für Angriffe auf Rechtsradikale. Man kennt es aus der Weimarer Zeit: politischer Mord in den Jahren 1919–22 – 22 Morde begangen von Linken, zehn Hinrichtungen, durchschnittliche Haftzeit: 15 Jahre. 354 Morde von Rechtsradikalen: einmal lebenslang, durchschnittliche Haftdauer vier Monate. Verurteilte Nazirichter nach 1945: keiner. Dafür bekam die Witwe von Roland Freisler auf Dauer ihre Witwenrente, während der BGH gegen die Mitglieder des Politbüros in der DDR filigran zu begründen wusste, warum ihnen die Ehrenrente wegen Inhaftierung in Konzentrationslagern aberkannt werden durfte.

Man könnte es fast schon als ironisch bezeichnen, wenn die Ermittlungsrichterin beim BGH, Frau Dr. Dietsch, das Besuchsverbot gegen Gabriele Rollnik bei Daniela Klette damit begründet, dass deren Mitgliedschaft in der Bewegung 2. Juni zwar schon Jahrzehnte lang zurückliegt, aber »die damaligen Taten von derartigem Gewicht und Gefährlichkeit [waren], dass Rückschlüsse auf die Manifestation der dahinter stehenden inneren Einstellung zulässig sind«. (BGH-Beschluss vom 20. Dezember 2024) Ob Frau Dr. Dietsch dieses Festschreiben von Taten in die eigene DNA auch in die DNA der Justiz überträgt und sich insoweit selber nach ihrer Motivation befragt? Wahrscheinlich nicht.

Die letzte Aktion der RAF war 1993 das Sprengen der neu gebauten Justizvollzugsanstalt Weiterstadt. Bei dieser Aktion hat das RAF-Kommando alles dafür getan, dass niemand verletzt wird. Ihre Auflösung datiert von 1998. Nicht aufgelöst hat sich das mediale und staatliche Verhältnis. Bei den Medien, zumindest bei einem Großteil, konnte man nach der Festnahme von Daniela Klette im Februar 2024 fast schon an ein Gelage denken, ein neues großes Fressen lockte.

Der jahrelange Phantomschmerz der abhanden gekommenen RAF verflog und endlich erschien der geliebte Feind wieder am Horizont, wenn auch nur als eigene Projektion auf billiger Beleggrundlage. Viele fühlten sich geradezu zu journalistischen Höhenflügen in der Denunziation und im Abkanzeln animiert. Manches war auf offenkundige Durchstechereien der Staatsanwaltschaft in Verden zurückzuführen. So titelte der »Spiegel« beweislos die Nachricht, dass Christian Klar Daniela Klette getroffen haben muss. Dabei ging es ausschließlich um den Dreisatz: Klette, Klar, RAF = Terror. Das zählt zu der staatsanwaltlichen öffentlichen Stimmungsmache vor dem Prozess, aus der ein entsprechendes Urteil sich fast schon als zwangsläufig abfordern lässt. Ein öffentliches Medium dazu lässt sich offenkundig leicht finden.

Der Verteidiger Lukas Theune verlangt in einem umfassend vorgetragenen Antrag die Aussetzung des Verfahrens, nachdem den Anwälten 16 Stunden vor Prozessbeginn zwei zwölf und sechs Terrabyte große Datenträger ausgehändigt worden sind mit verteidigungsrelevanten Daten. Eine unvorstellbare Menge. Alleine auf der kleineren, sechs Terrabyte großen Platte befinden sich 2,6 Millionen sogenannte Datenentitäten, was Adressen, Logfiles oder Mails oder Bilder oder sonst etwas sein können. Ein nachvollziehbares Ansinnen der Verteidigung.

Die Polizei brauchte zur Strukturierung dieser Daten das Programm Pathfinder der japanisch-israelischen Firma Cellebrite, die ihre technischen Fähigkeiten, mit denen man sich in jedes digitale Gerät unbemerkt einloggen kann, auch an Diktaturen veräußert. Die Anwälte haben dieses Programm nicht. Sie beantragten im Kontext einer »Waffengleichheit« den Zugang zu diesem Programm. Der Antrag auf Aussetzung des Verfahrens wurde am 1. April, dem zweiten Prozesstag, vom Gericht abgelehnt. Auch der Zugang zu »Pathfinder«. Nun haben sie einen Heuhaufen, in dem sie nach Nadeln suchen können.

Auch der Einstellungsantrag der Verteidigung wurde abgelehnt. Die Kammer, die über ihren Vorsitzenden immer sehr konziliant auftritt, ist zu dem Verfahren fest entschlossen. Sie versichert, durch nichts beeinflusst und der Wahrheit verpflichtet zu sein, und beruft sich darauf, schon in der Zulassung der Anklage die darin enthaltenen RAF-Bezüge der Staatsanwaltschaft als für das Verfahren bedeutungslos verworfen zu haben. Man wird sehen.

Cold Case ist bei den einen das Über in der kriminalistischen Forensik. Anderen bei der Polizei gehen solche Fälle auf die Nerven, weil sie zu viele Ressourcen binden. Dort etwas zu finden und aufzuklären, wo andere gescheitert sind, das triggert. Es ist heute Bestandteil vieler Filme und Serien: aufklären, nachsetzen, aburteilen. Stempel drauf: erledigt!

Den größten Cold Case der Geschichte des vergangenen Jahrhunderts hat aber auch Frau Dr. Marquardt verpasst und in der Anklage unerwähnt gelassen: die postfaschistische BRD mit ihren straflos gestellten Naziverbrechern, jede Menge davon in Polizei und Justiz. Auch daraus war die RAF begründet und nach ihrem Ende kam die Not der verbliebenen Gesuchten, sich finanzielle Ressourcen zu suchen, um zu überleben. Denn sich in die Hände dieser politischen Justiz aus der alten BRD zu begeben, konnte man nun wirklich niemandem anraten und niemandem abverlangen.

Man mag die Überlebensmethoden kritisieren, meinetwegen auch juristisch bewerten, aber es ist nur die alte politische Niedertracht, den Betroffenen dabei jede politische Moral abzusprechen und sie lieber subjektivistisch zu dämonisieren. Um nichts anderes geht es in der Anklageschrift der Staatsanwaltschaft in Verden.

Inmitten von allem sitzt eine Angeklagte, die augenscheinlich bei sich ist und jene Ruhe ausstrahlt, die man braucht, wenn Treibjäger meinen, der Sieg sei ihrer.