Vor etlichen Jahren hatte ich ein einschneidendes Erlebnis, das ich nie vergessen werde. Ein Erlebnis, dass mich ein für alle Mal lehrte, wie unerschütterlich ein Vorurteil sein kann und auf wie vernagelte Weise ressentimentgeladen Angehörige einer sich als exklusiv verstehenden Gruppe bisweilen sein können.
Es muss um die Jahrtausendwende passiert sein. Es war eine Phase in meinem Leben, in der ich gerne den einen oder anderen alten Anzug trug. Ich hatte zu jener Zeit einen Spleen, eine bizarre Vorliebe für schwarze oder dunkelgraue Einreiher aus den 80er Jahren, die ich jeweils für sehr bescheidene Summen in schmuddeligen Second-Hand-Geschäften zu erwerben pflegte. Ich war ein Bummelstudent, der schon die 30 überschritten hatte, und hatte nicht viel Geld. Einen neuen Anzug, selbst wenn er aus Polyester gefertigt und bei Karstadt im Sonderangebot gewesen wäre, hätte ich mir nicht leisten können. Mir gefiel es, dass man in Berlin, wenn man wusste, wo man danach suchen musste, für 20 Euro einen gebrauchten, aber meist gut erhaltenen italienischen Dreiteiler aus reiner Schurwolle kaufen konnte. Ich fürchte, heute gibt es das nicht mehr.
So ging ich also in meinem zerknitterten, nicht gerade taufrisch wirkenden anthrazitgrauen 20-Euro-Vintage-Anzug, den ich mit einer für zwei Euro erstandenen rosaroten Prochownick-Seidenkrawatte mit Paisley-Muster kombiniert hatte, meiner Wege.
Oft fuhr ich schwarz, weil ich mir meist auch kein Ticket für die U-Bahn leisten konnte. Doch eines Morgens, als ich wusste, dass ich an diesem Tag kreuz und quer mehrfach durch die halbe Stadt gondeln musste, entschied ich mich, mir ein Tagesticket zu gönnen. Und so stand ich – mit dem befriedigenden Gefühl, beim Auftauchen von Kontrolleuren nicht panisch das Weite suchen zu müssen, sondern ihnen gelassen und erhobenen Hauptes meinen Fahrschein unter die Nase halten zu können – am frühen Abend, von vielen müden grauen Feierabendgesichtern umgeben, in einem überfüllten U-Bahn-Waggon.
Ich betrachtete beiläufig ein ausgelassen scherzendes und sich neckendes Punker-Pärchen, das, einen Sechserpack Bier mit sich herumtragend, sich dicht an einer der Waggontüren platziert hatte, anscheinend um jederzeit ausstiegsbereit zu sein, falls Kontrolleure auftauchten. Die beiden waren schätzungsweise zehn Jahre jünger als ich damals, vielleicht Anfang 20, und sie waren reichlich mit den Insignien ihrer Subkultur versehen: grünblau (er) und pink (sie) gefärbtes wirres Haar, das borstig und verklebt in alle Richtungen strebte; zerschlissene schwarze Nietenlederjacken, auf welchen einschlägige Slogans prangten (»I don’t care«, »Schieß doch, Bulle!«); bunt bemalte Armeestiefel. Der junge Mann hatte sich überdies eine schwere Kette um den Hals geschlungen, an der eine Rasierklinge baumelte.
Jeder, der Augen im Kopf hatte, konnte erkennen, wie die beiden bei jedem Halt nervös den Bahnsteig beobachteten, um sich hernach, sobald die Türen sich geschlossen hatten, wieder ihrem Sechserpack zuzuwenden.
Plötzlich ertönten von beiden Waggonenden laute Stimmen, deren strenger Tonfall unüberhörbar war: »Die Fahrausweise, bitte!« Man konnte den Schock in den Augen der beiden Punks sehen. Die Türen waren zu, es gab keinen Ausweg für sie, während von beiden Seiten die in Zivil gekleideten Schergen der BVG sich auf uns zubewegten.
Da kam mir eine Idee, wie ich vielleicht mit einem Trick wenigstens einem der beiden fahrscheinlosen Bilderbuchpunks, die sich, ihrem traurigen Hundeblick nach zu urteilen, bereits ihrem bevorstehenden Schicksal zu fügen schienen, aushelfen könnte: Wenn es mir gelingen könnte, so dachte ich, einem der Kontrolleure mein Ticket übereifrig vorzuzeigen und ihn dabei in ein sinnfreies, möglichst langes Gespräch zu verwickeln, bestünde vielleicht die kleine Chance, einem der beiden Schwarzfahrer hinter meinem Rücken meinen Fahrschein zuzustecken.
Und tatsächlich hatte ich unverhofft Glück: Während der Kontrolleur, der von der einen Seite kam, noch ganz am Wagenende feststeckte, offenbar in ein Gespräch mit einem Fahrgast vertieft, war ich von dem Kontrolleur, der sich von der anderen Wagenseite auf uns zubewegte, bereits erfolgreich kontrolliert worden. Hinter dem Rücken des BVG-Sheriffs, der mein Ticket begutachtet und für korrekt entwertet befunden hatte und der nun in wohl etwa 30 bis 40 Sekunden auf das Punk-Pärchen zugehen würde, nahm ich rasch Augenkontakt mit dem jungen Lederjackenträger auf und gab ihm mimisch und gestisch unmissverständliche Zeichen, die besagen sollten: ›Hier, nimm meinen Fahrschein! Ich reiche ihn dir rüber, der Kontrolleur schaut gerade nicht hin, du musst nur deine Hand ausstrecken!‹ Den von mir abgewandten, mir noch immer seinen Rücken zukehrenden Kontrolleur-Schergen nicht aus den Augen lassend, wollte ich dem Punk unauffällig meinen Fahrschein in die Hand drücken und machte eindeutige Gesten, um ihn dazu zu bewegen, das Stück Papier möglichst schnell an sich zu nehmen. Doch von ihm kam außer einem hasserfüllten Blick, mit dem er mich von oben bis unten musterte, keine Reaktion. Den Fahrschein verschmähte er, stattdessen sagte er: »Von dir Schwein nehme ich nichts.«
Ich war in diesem Augenblick wie vor den Kopf gestoßen. Warum will er sich nicht helfen lassen? Sollten wir Armen und Outcasts nicht solidarisch miteinander sein und zusammenstehen, wenn der Kapitalismus seine hässliche Fratze zeigt? Und warum bin ich ein »Schwein«?
Erst als die beiden Schwarzfahrer mit hängenden Köpfen auf den Bahnsteig gebracht und ihre Personalien aufgenommen wurden und die Bahn weiterfuhr, begriff ich: Ich trug einen italienischen Anzug und eine Krawatte. Durch meine etwas geckenhaft wirkende Bekleidung, so alt oder schäbig sie gewesen sein mag, war ich offenbar in den Augen des Punks als Feind markiert, als Krawattenfaschist, als Angehöriger des Schweinesystems.
Ich bin mir nicht sicher, ob in einer besseren Zukunft nicht die Gewohnheit, Menschen nach ihrem Äußeren zu beurteilen, abgelegt werden sollte. Sicher ist jedenfalls: Wenn dereinst der Kommunismus gesiegt haben wird, werde ich persönlich dafür sorgen, dass die Versorgung der Menschen mit Seidenkrawatten und italienischen Anzügen sichergestellt ist.
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/1190377.die-gute-kolumne-du-musst-nur-deine-hand-ausstrecken.html