Nico Schlotterbeck hat während der vergangenen Tage eine Reise zwischen den Extremen absolviert. Emotional war der Verteidiger von Borussia Dortmund auf ein paar phänomenale Fußballtage eingestellt, auf eine Viertelfinal-Partie[1] in der Champions League beim FC Barcelona (Mittwoch, 21 Uhr), ein Duell in München beim FC Bayern am Samstag in der Bundesliga und das Rückspiel gegen den katalanischen Großklub[2] im heimischen Westfalenstadion nächste Woche. Nun jedoch muss er einen vollständigen Rückzug von allen Bühnen ankündigen, weil ihm am Sonntag im Training ein Meniskus im linken Knie gerissen ist. Er werde vorläufig »aus der Öffentlichkeit und den sozialen Medien« verschwinden, kündigt Schlotterbeck an und schreibt bei Instagram: »Weil ich das für meinen Kopf brauche.«
Beim Finalturnier mit der Nationalmannschaft in der Nations League[3] im Juni wird Schlotterbeck genauso fehlen wie bei der Klub-WM mit den Dortmundern sowie im weiteren Verlauf der Bundesligasaison. Das treffe den BVB »sehr hart«, sagt Sportdirektor Sebastian Kehl. Nicht nur, weil der stabilste, verlässlichste und wahrscheinlich auch stärkste Spieler der Mannschaft verloren gegangen ist. Sondern auch, weil der Ausfall die jüngsten Entwicklungen beschädigt, die viele Beobachter als eine Art Durchbruch betrachten.
Trainer Niko Kovac hat sich im März nämlich während des Spiels bei RB Leipzig zu einer verheißungsvollen Systemumstellung entschlossen. Weil Marcel Sabitzer damals ausgewechselt werden musste und wohl auch, weil er sich schon lange mit diesem Gedanken beschäftigt. Jedenfalls baute er seine Mannschaft um, die seit jener 33. Minute des mit 2:0 verlorenen Spiels bei RB mit einer Dreierkette spielt und erstaunliche Entwicklungsschritte in dieser Grundordnung geschafft hat. Die Mannschaft funktioniert jetzt erheblich besser, wie die jüngsten Spiele gegen Mainz und in Freiburg untermauern. Das 3-4-1-2-System funktioniert.
Zwar sagt Kovac: »Die Übergänge zwischen Dreier- und Viererkette sind ja fließend. Wir wollen variabel sein, damit wir schwer einzuschätzen sind für die Gegner.« Es gibt nur ein Problem: Für eine Dreierabwehrkette sind drei Innenverteidiger erforderlich, und der Mangel an diesem Spielertyp war schon vor der Schlotterbeck-Verletzung sichtbar.
Niklas Süle ist angeschlagen, Ramy Bensebaini musste am vorigen Samstag in Freiburg mit einer Blessur ausgewechselt werden, woraufhin dann der Mittelfeldspieler Salih Özcan in die Abwehr rückte. Eigentlich sind nur Emre Can und Waldemar Anton gesetzt für die Abwehrduelle in Barcelona mit Robert Lewandowski, Raphinha oder Lamine Yamal. Kovac steht damit vor der Frage, ob er seine bislang beste Traineridee wieder abschaffen soll, zu der ja auch noch eine ebenfalls bestens funktionierende Doppelspitze zählt.
Gleich in seinen ersten Tagen nach seiner Ankunft beim BVB wollte der Trainer Ende Januar in Einzelgesprächen von allen Spielern wissen, wer sich auf welcher Position, in welchen Räumen und mit welchen Aufgaben am wohlsten fühlt. Schon damals soll sich angedeutet haben, dass das in Dortmund über Jahre etablierte 4-2-3-1-System infrage gestellt werden könnte. Nun ist zu sehen, dass die Außenverteidiger Daniel Svensson und Julian Ryerson die Räume auf ihren Flügeln besser kontrollieren können, wenn sie zu sogenannten Schienenspielern werden und drei Innenverteidiger im Rücken haben.
Außerdem passt das neue System hervorragend zu Maximilian Beier und Karim Adeyemi, die zuletzt eine klassische Doppelspitze bildeten und ebenfalls viel harmonischer ins Gesamtkonstrukt integriert waren. »Maxi und ich haben das bei unseren alten Vereinen auch gespielt, deswegen haben wir das schnell adaptiert«, sagt Adeyemi, dem plötzlich keine Außenverteidiger mehr im Rücken weglaufen, weil er mal wieder dachte, es werde schon nichts passieren.
Das ganze Konstrukt wirkt stabilisiert, auch wenn grundsätzlich Vorsicht geboten ist mit Einschätzungen zu Borussia Dortmund, die länger halten sollen als bis zum nächsten Spiel. Aber nach großen Anfangsproblemen sind zweifellos gerade fußballerische Fortschritte erkennbar. Und beim 4:1-Sieg gegen Freiburg setzte sich der Trend sogar ohne Schlotterbeck fort. Der Linksfuß fehlte aufgrund einer Gelbsperre, geübt haben sie ihr neues System also schon einmal ohne den Verteidiger, der eigentlich so gut in Form war wie nie, seit er 2022 nach Dortmund kam. Selbst Bundestrainer Julian Nagelsmann erklärte: »Nicos Ausfall tut extrem weh. Er ist sowohl im Klub als auch für uns in der Nationalmannschaft enorm wertvoll – auf und neben dem Platz.«