Es war Nacht, als ich in Deutschland 2016 ankam. Es regnete in Berlin, die ganze Stadt roch nach Regen. Ich sah die vielen Bäume und fand es seltsam, dass in einer Stadt so viele Bäume stehen. Es war Herbst und sehr kalt. Man brachte uns in einen unterirdischen Raum, in dem mindestens 1000 Menschen gewesen sein müssen. Es war laut, aber sicher, ich musste keine Angst mehr haben.
Ich war so müde, ich legte mich einfach auf den Boden. Beim Einschlafen sah ich, dass alle Menschen in den Feldbetten schliefen. Ich war damals sechs Jahre alt.
Am nächsten Morgen ging ich die Treppen hoch und da waren wieder so viele Menschen. Wieder war es so laut. Ich bin essen gegangen und es war sehr lecker, bis heute schmecke ich es noch! Es gab Nudeln mit Tomatensoße. Die habe ich da zum ersten Mal gegessen.
Die ersten Tage in Berlin waren pures Chaos, all die Behörden, es war so unverständlich und endlos. Für meinen Papa waren all die Papiere nicht zu verstehen. Die Einsamkeit rankte sich langsam an mir hoch. Ich sehnte mich nach dem vertrauten Geruch des Brotes, das meine Oma backte. Und noch vielmehr vermisste ich ihre Stimme und ihre Umarmungen.
Ich hatte Heimweh. Nach Afghanistan, nach meinem Heimatdorf Tepa in der Provinz Kundus. Schöne Erinnerungen: wie ich mal mit einem Freund Steine auf die Straße gelegt hatte und die Autos fuhren deswegen ganz langsam und wir konnten uns heimlich hinten dranhängen und zum nächsten Dorf mitfahren. Dort sprangen wir einfach ab und liefen zurück nach Hause. Wir lachten und lachten.
Aber jetzt war ich in einem fremden Land, sehnte mich nach meiner Heimat und vermisste meine Freunde. Mein Papa brachte mich in eine Gruppe, in der Deutsche und Geflüchtete Fußball spielten, aber ich konnte mit niemandem dort reden. Die Afghanen waren alle Erwachsene. Ich war deswegen sehr frustriert. Aber dann schafften die deutschen Kinder und ich es doch, uns mit Händen und Füßen zu verständigen. Und plötzlich machte Fußball Spaß. Das hat mich glücklich gemacht. Und es war, glaube ich, das erste Mal, dass ich wirklich hier Fuß gefasst habe.
Ich bin dann jeden Tag zum Fußball gegangen, es war der einzige Fluchtort vor der Halle mit den Feldbetten, wo alle nur über Krieg, Politik und Tote redeten.
Ich habe dort angefangen, Deutsch zu lernen und mich an die Unterschiede zu gewöhnen. In Afghanistan gibt es zum Beispiel keine Alkohol-Werbung und keine Unterwäsche-Werbung. In Deutschland ist das normal, aber ich fand das komisch, da ich nur die Werbung aus Afghanistan kannte.
Irgendwann zog meine Familie um. Der neue Ort war grässlich, ein Zimmer für uns Sechs. Es gab keinen Ort mehr, an dem ich Sport treiben konnte. Nach ein paar Monaten zogen wir wieder um, zum zweiten Mal. Diesmal in die Nähe der Prenzlauer Allee. Ich war nun in einer Schule und es gab einen riesigen Fußballplatz. Darauf spielten in der Pause Kinder und Jugendliche. Ich fragte mit Gesten und einfachen Worten, ob ich mitspielen könnte. Ja!
Wir spielten ab dann jeden Tag gemeinsam und daraus wurde meine erste Freundschaft in Deutschland. An diesem Punkt gehen Grüße raus an Ella und Lara! Obwohl wir uns nur mit einfachen Worten und Gesten verständigen konnten, wurden wir Freunde.
Als meine Familie eine eigene Wohnung zum Bleiben gefunden hatte, zogen wir wieder um, diesmal ins Märkische Viertel. Dort lebe ich immer noch. Ich fand damals die riesigen Häuser überwältigend und fragte mich, wieso sie nicht umfallen. Leider verlor ich dort aber den Kontakt zu meinen Freunden aus Prenzlauer Berg.
An meinem neuen Wohnort probierte ich ein paar Sportarten aus. Ich spielte wieder Fußball, aber es machte mir keinen Spaß mehr. Ella und Lara fehlten, es war nicht mehr das Gleiche. Dann habe ich mich beim Baseball angemeldet.
Ich habe es ein Jahr lang gespielt, dann aber aufgehört, weil die Menschen dort nicht nett waren. Schließlich sprach ich mit meiner Sportlehrerin und sie sagte mir, ich solle mal Leichtathletik ausprobieren.
Ich ging zum Stadion Finsterwalder Straße und sah eine Gruppe trainieren. Sie sprangen über die Hürden, warfen Speere und liefen über die Bahnen. Ich hörte eine Weile dem rhythmischen Klacken der Spikes zu und schließlich traute ich mich, zum Trainer zu gehen. Ich fragte, ob ich mitmachen dürfe, und er lud mich ein, dabei zu sein.
Beim Probetraining war alles neu für mich, aber mein Herz war glücklich. Endlich wieder Sport. Es bereitete mir Spaß, zu laufen, zu werfen, zu springen, und die Menschen hießen mich willkommen. Ich wurde Mitglied des TSV Berlin-Wittenau 1896 e. V.
Mein größter Erfolg war, als ich zum ersten Mal an einem Wettkampf teilnahm: Ich war sehr nervös. Bei dem Startsignal bin ich zu schnell losgerannt und das war ein Fehler – bei einem Ausdauer-Wettkampf. Es ging hoch und runter und es war die Hölle, aber ich wollte nicht aufgeben. Am Ende war ich unter den ersten 20 und so stolz auf mich.
Aber dann schafften die deutschen Kinder und ich es doch, uns mit Händen und Füßen zu verständigen.
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Beim TSV Wittenau trainiere ich bis heute. Meine Lieblingsdisziplinen sind Sprint, Kugelstoß und Weitsprung. Ich trainiere fünfmal die Woche, plus die Aufgaben für zu Hause. Mein Traum ist, auch wenn es sehr unwahrscheinlich ist, mal an den Olympischen Spielen teilzunehmen und im besten Fall zu gewinnen in meiner Disziplin.
Leichtathletik ist ein fester Bestandteil meines Lebens. Ich nehme regelmäßig an Wettkämpfen teil. Der Sport gab mir die mentale Kraft, meiner Familie bei allem Gerangel mit den Behörden zu helfen und sie bei Elterngesprächen und Gesprächen im Jugendamt zu unterstützen. Durch die Menschen im Sport lernte ich, wie es ist, in Deutschland zu leben.
Ich liebe den Sport. Er ist immer noch mein Fluchtort vor all den Problemen des Alltags. Ich vergesse dort meine Sorgen. Es ist nicht leicht, in einem fremden Land die Sprache zu lernen, zur Schule zu gehen, der Familie zu helfen, gute Noten zu haben und sich zurechtzufinden. Der Sport hilft mir dabei, einen kühlen Kopf zu bewahren. Leichtathletik ist der richtige Sport für mich, weil der Wind in mein Gesicht weht und ich mich dann frei fühle – wie ein Vogel, der im endlosen Himmel fliegt.
Ali Mohammad Safdari ist 16 Jahre alt und Schülerpraktikant beim »nd«.