Am 12. April haben haben erneut Tausende Menschen in Budapest gegen das Verbot der jährlichen Pride-Parade der LGBTQ-Gemeinschaft durch die Regierung demonstriert. Herr Karácsony, als Sie ankündigten, dass sie doch stattfinden würde, klang das für mich nach einer Aktion zivilen Ungehorsams. Ist es das, was Sie vorhaben? Haben Sie als Bürgermeister vor, das Verbot zu ignorieren, und wird das Rathaus solche Aktionen unterstützen?
Ich dachte, dieses Jahr wird es eine Pride in Budapest geben, weil die Bürger ungehorsam sind, keine Angst vor der Macht haben und weder das Verbot noch die Drohung hinnehmen können. Das war alles.
Wie sehen Sie angesichts des Verbots die Lage der Bürgerrechte in Ungarn?
Wenn wir akzeptieren, dass in Ungarn das Gesetz nicht mehr die Bürger vor der Macht schützt, sondern die Macht vor den Bürgern, dann steht alles auf dem Spiel, was uns wichtig ist. Allen voran unsere Freiheit. Jeder Angriff auf die Freiheit eines Einzelnen ist ein Angriff auf die Freiheit von uns allen. Und genau darum geht es bei der Pride: um die Verteidigung der Freiheit aller. Deshalb wird es trotz aller Verbote und Drohungen von Seiten der Behörden eine Pride in Budapest geben – und ich glaube, sie wird größer sein als je zuvor.
Budapest hat einen kosmopolitischen Ruf und zieht viele Touristen an. Glauben Sie, dass das Verbot dem Ruf der Stadt schaden wird?
Ich mache mir eher Sorgen, dass das Verbot den Menschen in Budapest, in Ungarn, schadet. Denn wenn eine Gemeinschaft ihrer Grundfreiheiten beraubt wird, ist das ein Dammbruch, der nicht mehr aufzuhalten ist. Noch einmal: Es geht hier nicht um eine einzelne Gruppe – die Freiheit aller ist jetzt in Gefahr.
Die Regierungspartei Fidesz hat eine Zweidrittelmehrheit im Parlament und hat nun nicht nur ein Gesetz geändert, sondern wird sogar die Verfassung ändern, um die Pride zu verbieten. Planen Sie rechtliche Schritte im Namen der Stadt Budapest?
Wir haben schon mehrere Klagen gegen die Regierung gewonnen. Wenn es aber um die Pride geht, glaube ich viel mehr an die Macht der Gemeinschaft. Ich glaube daran, dass in Budapest viele Menschen auf die Straße gehen sollten, um die Freiheit zu feiern, die Liebe zu feiern – und auf diese Weise den Behörden und der Welt zu zeigen, dass Budapest eine freie Stadt ist, die an die Kraft der Vielfalt glaubt.
Die Fidesz hat das Verbot mit dem Schutz von Minderjährigen begründet. Wäre es für Sie auch eine Möglichkeit, den Zugang für Minderjährige einzuschränken?
Zur Pride kommen viele Familien, weil sie wissen, dass dies eine Feier der Freiheit und Liebe ist. Das ist überall auf der Welt so, auch in Budapest. Ich würde die Entscheidung zur Pride zu gehen, deshalb den Eltern überlassen und nicht der Regierung.
Bevor Sie in die Politik gingen, waren Sie außerordentlicher Professor für Politikwissenschaft. Fidesz greift die Unabhängigkeit der Justiz an und diskreditiert die Opposition. Warum wird die ungarische Regierung immer autoritärer?
Zu erforschen ist etwas ganz anderes als zu erleben – als Bürgermeister und Bürger –, wie Länder in die Autokratie abgleiten. In Lehrbüchern werden diese Jahre wahrscheinlich als die Putinisierung Ungarns in Erinnerung bleiben. Der Regierung von Viktor Orbán scheint die Luft auszugehen: Sie ist nicht in der Lage, die Wirtschaftskrise zu bewältigen, sie spürt, dass ihre Macht in Gefahr ist, und in solchen Fällen sucht sie nie nach Lösungen, sondern nach Sündenböcken. Genau das geschieht jetzt, und zwar auf eine immer brutalere Weise. Viele Menschen auf der ganzen Welt haben das Gefühl, dass sich die Welt verändert hat, und suchen nach einem Ausweg aus dieser misslichen Lage. Und sie suchen oft Zuflucht bei Populisten, die ihnen nur sagen können, wen sie hassen müssen, um ihre Angst zu lindern.
Ein Jahr vor der nächsten Parlamentswahl scheint der Fidesz-Abtrünnige Péter Magyar eine ernsthafte Bedrohung für Orbán zu werden. Vermuten Sie hinter dem Pride-Verbot auch politisches Kalkül?
Für mich ist die Sache der Pride wichtiger als politische Kommunikation oder Machtkämpfe. Ich verstehe, dass man auf diesem Weg politische Parteien und Akteure provozieren kann, aber die Verlierer in diesem politischen Spiel werden diejenigen sein, die gerade jetzt die meiste Unterstützung brauchen: unsere LGBTQ-Mitbürger. Ich bin der Oberbürgermeister von Budapest. Meine tiefste moralische Überzeugung ist, dass diese Stadt allen gehört. Dass wir nur frei sein können, wenn wir alle frei sind. Es ist meine Aufgabe, dieser Stadt zu dienen, die stolz auf ihre Vielfalt ist. Nur so kann ich meinem eigenen Gewissen gerecht werden.