nd-aktuell.de / 16.04.2025 / Politik / Seite 1

Ökostrom für Elektrorollstühle: Einmal volltanken, bitte

Deutschlands erste Solartankstelle für E-Rollstühle steht an Hamburger Schule »Hirtenweg«

Anton Benz
Die Einweihung der Solartankstelle am 28. Mai 2024
Die Einweihung der Solartankstelle am 28. Mai 2024

Nicht nur dem Neuntklässler Adrian wird der 28. Mai 2024 lange in Erinnerung bleiben. Die gesamte Schule »Hirtenweg« hat sich an diesem Tag um den roten Klassenzimmer-Container[1] im Westen Hamburgs versammelt. Auch Journalist*innen waren vor Ort – und jede Menge Kameras.

Adrian trägt einen weißen Helm und Arbeitshandschuhe, als er und weitere Schüler*innen mit einer Hebebühne auf das Dach des Containers gebracht werden. Alle Augen sind auf sie gerichtet; schauen zu, wie sie dabei helfen, die letzten drei Solarpaneele anzuschließen. Dann ist es vollbracht: Die laut Angaben der Schule bundesweit erste Solartankstelle für E-Rollstühle[2] liefert Strom.

Ein knappes Jahr später: Während der Mittagspause ist die Stimmung am Hirtenweg wie in jeder anderen Schule. Es wird getobt, gelacht, es ist laut. Nur das Verhältnis zwischen Schüler*innen und Lehrkräften[3] wirkt vertrauter. Auf dem Weg zur Caféteria spricht ein Schüler seinen Lehrer mit »Du« an und verwickelt ihn in ein kurzes Gespräch – hier scheint das gang und gäbe zu sein.

Klimalabor macht Schule

Auf die Sonderschule in Hamburg-Altona gehen Kinder und Jugendliche, die in ihrer körperlichen und motorischen Entwicklung beeinträchtigt sind. Viele von ihnen benötigen einen E-Rollstuhl, um sich selbstständig fortbewegen zu können. Diese kann man mit einem Joystick steuern, dafür braucht es nur wenig Kraft und etwas Beweglichkeit in den Fingern.

Eineinhalb Jahre habe die Schule darauf hingearbeitet, dass die E-Rollis mit Solarstrom geladen werden können, erzählt Markus Power von Greenpeace[4]. Je nachdem, wie man es betrachtet, sind es sogar drei Jahre: Damals nahm die Schule an einem »Climate Lab« teil, einem Klimalabor im Rahmen des Bildungsprojekts »Schools for Earth«[5], das Power betreut. In dieser Zeit wurde eine CO2-Bilanz für die Schule erstellt und Power entwickelte – gemeinsam mit den Schüler*innen – Ideen, wie man die Schule klimafreundlicher machen kann. Nach dieser Projektphase war für alle Parteien klar, dass die Zusammenarbeit weitergehen soll. Die Frage war nur wie.

Bei Schools for Earth gehe es darum, dass Schüler*innen eigene Ideen entwickeln und selbst umsetzen, erklärt Power. Nur war die Ideenfindung nicht so einfach wie an anderen Schulen. »Vielen hier fällt das Sprechen schwer«, sagt er. Wie ihre Beteiligung trotzdem gelang? Power deutet auf ein bemaltes Banner, dass an einer Treppe nahe dem Eingangsbereich der Schule befestigt ist.

Mit diesem Banner entstand die Idee einer Solartankstelle für E-Rollis.
Mit diesem Banner entstand die Idee einer Solartankstelle für E-Rollis.

Darauf zu sehen: ein Regenbogen über einem Baum, eine Erdkugel – und die erste Skizze einer solarbetriebenen Ladesäule für Rollstühle mit der Festsellung »Solar, Wind bis 2026 ist die Lösung!«. Die Idee für das Pionierprojekt kam also von den Schüler*innen, das betonen die Schulleitung und Power immer wieder. An der Konkretisierung und Umsetzung arbeitete er dann vor allem mit den Lehrer*innen und Energieexpert*innen.

Mehr auf dem Kasten als Holz

Fast ein Jahr ist sie nun alt, die »Solartankstelle«. Genau genommen handelt es sich dabei um eine Photovoltaikanlage mit einem Batteriespeicher[6]. Auf dem Dach erzeugen zehn Solarpanele Energie, die etwas versteckt in der Ecke des roten Klassenzimmers in einem Akku gespeichert wird. Zehn Rollstühle kann man damit in etwa aufladen, so viel Kapazität hat die Batterie.

Wirklich zu sehen ist von alldem nur ein grün-gelber Holzkasten, darin eingelassen sind ein Tablet zum Ablesen der Einspeisedaten – und die drei Steckdosen, an denen E-Rollis, aber auch andere elektronische Geräte geladen werden können.

Zwischen fünf und sieben Rollstühle gebe es gerade, die über Nacht an der Schule bleiben und mit Sonnenenergie geladen werden können, erzählt Schulleiterin Verena Müller. Hauptsächlich werde die Solartankstelle aber genutzt, um Tablets für den Unterricht zu laden. Dazu gehören auch sogenannte Talker, also elektronische Sprechhilfen. Müller findet, dass das eine ebenso passende Verwendung ist, schließlich würden Talker genau wie Rollstühle dabei helfen, ein Stück Unabhängigkeit zu erlangen.

Alle sind elektrisiert

Trotzdem sind sich inzwischen alle einig, dass die Solartankstelle ihr wahres Potenzial nicht ausschöpft. Ein Problem ist ihr Standort. Das Container-Klassenzimmer ist etwas abgelegen und kein beliebter Treffpunkt. Außerdem kann man die Tankstelle selten besuchen, ohne andere beim Unterricht zu stören. Deshalb plant die Schule, den grün-gelben Kasten in die Aula zu stellen. Dafür müssen jedoch Anträge gestellt, Genehmigungen eingeholt, Kabel verlegt werden. Kurz: Es braucht Zeit.

Es ist aber auch gar nicht die Tankstelle selbst, die die Schule so sehr veränderte – sondern die Idee dahinter und der Weg bis zur Umsetzung. Schulleitung, Greenpeace, Schüler*innen: Alle berichten davon, dass das Projekt sie geprägt habe – jeden auf eine andere Weise.

»Die Solartankstelle hat das Kollegium und uns aufgeweckt.«

Thomas Jansen stellvertretender Schulleiter

»Die Solartankstelle hat das Kollegium und uns aufgeweckt«, sagt Thomas Janser, der stellvertretende Schulleiter. Rückblickend erkenne er, dass Lehrkräfte ihre Schüler*innen bisweilen unterschätzt hätten. Seit dem gemeinsamen Projekt werde die Schüler*innenschaft viel häufiger in Entscheidungen einbezogen. Monatlich treffe sich die Schulleitung nun mit den Schulsprecher*innen. Müller berichtet davon, wie sehr sie es bewegt habe, »ihre« Schüler*innen auf einer Greenpeace-Veranstaltung gemeinsam mit Schüler*innen von anderen Hamburger Schulen zu erleben.

»Schools for Earth bringt eben nicht nur die Schüler*innen raus in die Welt – sondern bringt auch die Welt in die Schule«, meint Power. Auch für den Mann von Greenpeace war die Zusammenarbeit lehrreich. Methodisch erforderte der Förderschwerpunkt der Schule eine andere Herangehensweise als gewohnt; Power verweist auf das Banner, das das Treppenhaus nun seit einiger Zeit schmückt. Und auch bei den Bildungsmaterialien, die Greenpeace für School for Earth entwickelt hatte, zeigte sich Nachholbedarf. »Als Ergebnis der Kooperation haben wir unsere Broschüren inklusiver gestaltet und Adaptionen zum Beispiel in Leichter Sprache entwickelt«, sagt Power. Und die Zusammenarbeit geht weiter: Die Schule am Hirtenweg hat sich entschlossen, sich mit dem Schullabel »Schools for Earth« zertifizieren zu lassen, als Schule, die sich in den Bereichen Nachhaltigkeit, Klimaschutz und Beteiligung besonders engagiert.

Den stärksten Effekt hatte das Projekt wohl auf die Schüler*innen. Die vier Schulsprecher*innen Eljesa, Jan, Jorek und Adrian – alle zwischen 14 und 16 Jahre alt – sitzen in einem kleinen Pausenraum und teilen ihre Eindrücke. »Man möchte eben etwas verändern, damit es Menschen besser geht«, sagt Adrian, der damals, vor rund einem Jahr, dabei half, die Solarpaneele zu installieren. Der gesamte Prozess »hat schon viel in uns ausgelöst«, ergänzt Jan. Die vier berichten von politischen Projekten, in denen sie sich inzwischen engagieren. Adrian und Jan waren beide auf dem »Fast Forward Future Schüler*innen-Kongress«, um die Stadt Hamburg nachhaltiger zu gestalten. Außerdem entstand an der Schule eine Politik- und Gesellschaftsgruppe. Ihr aktuellstes Vorhaben: eine schulinterne Bundestagswahl (stärkste Kraft an der Schule wurde die SPD).

Und dann sind da noch die anderen Schulen, die sich bereits am Hirtenweg oder bei Greenpeace erkundigt haben und etwas Ähnliches umsetzen wollen. Auch in München, das erzählt Power, arbeite inzwischen eine Schule gemeinsam mit der Umweltorganisation an einer Solartankstelle. Jene soll aber nicht Rollstühle mit Energie versorgen, sondern E-Scooter und E-Bikes. Man merkt: Die Schüler*innen am Hirtenweg haben mit ihrer Idee einiges ins Rollen gebracht.

Links:

  1. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1190318.bildungspolitik-ein-komplizierter-flickenteppich.html
  2. https://www.hamburg.de/politik-und-verwaltung/behoerden/schulbehoerde/veroeffentlichungen/newsletter/newsletter-der-schulbehoerde-2024/deutschlands-erste-e-rolli-solartankstelle-steht-in-hamburg-/public-viewing-auf-dem-schulhof-898748
  3. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1190285.bildung-lehrer-vor-dem-burnout-letzte-option-reissleine.html
  4. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1189929.greenpeace-usa-lawfare-gegen-zivile-kritiker.html
  5. https://www.greenpeace.de/ueber-uns/umweltbildung/schools-earth
  6. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1183094.solarenergie-solarrevolution-im-hinterhof.html