In der Bevölkerung stößt das Projekt überwiegend auf Ablehnung, aber im konservativ beherrschten Nationalkongress würde sich dafür eine Mehrheit finden. Nach Umfragen sind fast zwei Drittel der Brasilianerinnen und Brasilianer gegen die am Montag vom Fraktionschef der Liberalen Partei von Ex-Präsident Jair Bolsonaro, Sostenes Cavalcantes, als Dringlichkeitsantrag eingereichte Gesetzesinitiative.
Vordergründig zielt der Antrag auf eine Begnadigung der am Sturm auf das Regierungsviertel am 8. Januar 2023 Beteiligten. Nach dem Vorbild des Washingtoner Kapitolsturms ein Jahr zuvor hatten Anhänger des abgewählten rechtsextremen Politikers Jair Bolsonaro eine Woche nach der Amtseinführung seines Nachfolgers Luiz Inácio Lula da Silva von der Arbeiterpartei (PT) in Brasília den Kongress und andere Regierungsgebäude gestürmt und verwüstet. Zuvor hatten in der Hauptstadt und an anderen Orten mit der Lüge von der gestohlenen Wahl mobilisierte Bolsonaristen vor Kasernen Camps errichtet und das Militär zu einer Intervention in die Politik aufgefordert. Etliche der Randalierer, die meist mit von rechten Unternehmern gesponserten Bussen nach Brasília geschafft worden waren, sind mittlerweile zu teils hohen Haftstrafen verurteilt worden und sitzen hinter Gittern.
Anders sieht es bislang noch bei den indirekt für diese Ereignisse Verantwortlichen und für die Planung eines Putsches gegen die demokratische Ordnung Verdächtigen aus. Das liegt nicht zuletzt an einer Zwei-Klassen-Justiz, bei der ein großer Kreis von Amtspersonen das Privileg besitzt, nur von den langsam arbeitenden höheren Instanzen verurteilt werden zu dürfen. Dieser Personenkreis verfügt in der Regel auch über die Mittel, sich vor Gericht besser verteidigen zu lassen als der Durchschnitts-Brasilianer.
Politisch brisant ist, dass der eingereichte Gesetzestext, der die Unterschriften von 262 der 513 Abgeordneten des Unterhauses trägt, Straffreiheit für antirepublikanische Handlungen gewähren will, die zwischen dem 30. Oktober 2022 und dem 8. Januar 2023 durchgeführt wurden. Damit handelt es sich um einen Versuch, den Ende März vom Obersten Gerichtshof zugelassenen Prozess[1] gegen Bolsonaro und weitere mutmaßliche Verschwörer zu sabotieren, denen die Generalstaatsanwaltschaft vorwirft, die Unruhen geschürt und einen regelrechten Staatsstreich geplant zu haben.
Bolsonaro, der Brasilien von 2019 bis Ende 2022 regierte, ist angeklagt, der Kopf einer kriminellen Vereinigung gewesen zu, die das Ziel verfolgt habe, den Amtsantritt von Lula da Silva, der die Präsidentschaftswahl im Oktober 2022 knapp gewann, gewaltsam zu verhindern. Mit Bolsonaro auf die Anklagebank sollen mehrere Minister, Militärführer und der Ex-Geheimdienstchef. Die Ermittler stießen unter anderem auf einen vom damaligen Präsidenten bearbeiteten Entwurf für ein Notstandsdekret und Planungen für eine Operation »Grün-gelber Dolch« zur Ermordung von Lula sowie Anschläge auf dessen Vize, Geraldo Alckmin, und den Obersten Richter Alexandre de Moraes.
Auf die der Gruppe vorgeworfenen Verbrechen stehen hohe Gefängnisstrafen, doch der Weg bis zu endgültigen Urteilen ist lang und verzweigt. Straflosigkeit für dieses politische Spektrum hat in Brasilien Tradition. So wurden die von den Schergen der von Bolsonaro verherrlichten rechten Militärdiktatur[2] in den Jahren 1964 bis 1985 begangenen Menschenrechtsverletzungen juristisch nie aufgearbeitet. Die Täter schützt ein 1979 erlassenes Amnestiegesetz.
Bolsonaro, dem wegen Amtsmissbrauchs das passive Wahlrecht bis 2030 abgesprochen wurde und der dennoch weiter von einem Comeback träumt, sieht in einer Amnestie seine Trumpfkarte. Die PT spricht von einer »Fortsetzung des Putsches« und warnt vor einer institutionellen Krise. Ob das Gesetz zur Abstimmung kommt, entscheidet nach Ostern Parlamentspräsident Hugo Motta, eine Kompromissfigur der großen politischen Lager.
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/1190638.brasilien-aufruehrer-sollen-straffrei-ausgehen.html