Insgesamt ist die Klimawissenschaft erfolgreich, sah sie doch die zentralen Folgen des CO2-Anstiegs in der Atmosphäre erstaunlich gut voraus. So prognostizierten Klimamodelle bereits vor 40 Jahren, dass sich die Arktis deutlich schneller erwärmen würde als der Rest der Erde[1]. Dasselbe gilt für die Landmassen im Vergleich zu den Ozeanen und die Gebirge im Vergleich zu tiefer gelegenen Landstrichen.
Regional entwickelt sich das Klima jedoch vielerorts anders als erwartet: So liefern die gängigen Klimamodelle weder eine Erklärung dafür, warum im Sommer gehäuft blockierende Wetterlagen – bei denen sich Hoch- und Tiefdruckgebiete kaum von der Stelle bewegen – über Grönland auftreten, noch warum Südafrika zunehmend von Dürren heimgesucht wird. Manche regionale Entwicklungen übertreffen in ihrer Intensität alle Prognosen: So nehmen die Hitzeextreme[2] in Mitteleuropa stärker zu als gedacht. Auch weiß man zwar, dass es mit steigenden Temperaturen häufiger und stärker regnen wird, die Modelle geben jedoch keinen Aufschluss darüber, wo.
Abweichungen von den Klimamodellen weisen auf entscheidende Wissenslücken hin.
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Wie lassen sich derartige Abweichungen von den Vorhersagen einordnen? Mit dieser Frage beschäftigen sich die Professorin am Geophysischen Institut der Universität von Chicago, Tiffany Shaw, und der Direktor des Max-Planck-Instituts (MPI) für Meteorologie in Deutschland, Bjorn Stevens, in einem Artikel[3], der kürzlich im Fachjournal »Nature« erschien. Denn möglichst verlässliche Vorhersagen sind wichtig für Regionen, Länder und Kommunen, um zu planen, Ernährungssicherheit zu garantieren und ihre Menschen möglichst gegen Dürre[4] und Hochwasser zu schützen.
»Wie variabel kann Klima sein? Sind hierzulande drei Jahre Dürre in Folge (wie es sie 2018, 2019 und 2020 gab, Anm. d. A.) ohne Klimawandel möglich?«, fragt Stevens. »Wenn die Modelle das nicht widerspiegeln können oder man sie 10 000 Mal laufen lassen muss, bis sich diese Art von Veränderungen ergeben, dann ist wahrscheinlich das Modell falsch«, erklärt er. Oder zumindest weisen solche Abweichungen auf entscheidende Wissenslücken hin, die es zu schließen gilt. »Die Herausforderung für die konzeptionelle Arbeit wird darin bestehen, herauszufinden, welche Physik, die im Standardansatz fehlt, für regionale Veränderungen am wichtigsten ist und wie wir sie einbeziehen können«, sagt der Meteorologe. Denn überhaupt gebe es in dieser Disziplin eine »komische Mischung« aus physikalischen Modellen für großskalige Prozesse und statistischen für die kleinräumigen. Auch letztere müssten physikalischer abgebildet werden.
Besonders große Diskrepanzen zu den Klimamodellen bestehen in den Tropen. Das überrascht wenig, wurde doch dort bislang deutlich weniger geforscht als in den mittleren Breiten und den Polarregionen. Das soll sich nun ändern. 2024 startete das MPI einen großen Feldversuch über dem tropischen Atlantik. Ziel des Projekts »Orcestra« ist es, das Verständnis über die dortige innertropische Konvergenzzone (ITCZ) zu vertiefen. Diese ist Teil der Hadley-Zirkulation, eines globalen Luftströmungssystems. Die ITCZ ist von zentraler Bedeutung für das Weltklima, da sie Wärme und Feuchtigkeit über den ganzen Globus verteilt und für ein Drittel aller Niederschläge sorgt. Man nimmt an, dass sie sich mit der Erderwärmung verändert. Klimamodelle haben jedoch Schwierigkeiten, genauere Prognosen zu geben, denn die Prozesse in der ITCZ sind hochkomplex. Möglicherweise liegt hier einer der Schlüssel für bislang noch unerklärbare Entwicklungen in anderen Teilen der Welt.
Nach Ansicht der beiden Wissenschaftler ist es auch denkbar, dass ähnlich wie seinerzeit in der Physik, als die Quantenphysik[5] entstand, die Klimawissenschaft in einer Krise steckt und ihr Paradigma überarbeiten muss. Dieses stützt sich auf die Annahme, dass statistische, von den großräumigen Prozessen abhängende Mittelwerte die kleinräumigen Prozesse bestimmen. Möglicherweise spielen bestimmte regionale Prozesse eine größere Rolle als gedacht.
Wichtig ist es den Forschern aber zu betonen, dass die gefundenen Abweichungen von den Klimamodellen keinesfalls die physikalischen Grundlagen der Disziplin infrage stellen. Wollen wir der Erderwärmung entgegenwirken, müssen wir den Ausstoß von Treibhausgasen vermindern.
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/1190656.klimaforschung-zeit-fuer-ein-neues-paradigma.html