nd-aktuell.de / 18.04.2025 / Politik / Seite 1

Das Kapital will mehr vom Leben

Unternehmen fordern längere Arbeitszeiten. Die schwarz-rote Koalition will den Acht-Stunden-Tag abschaffen. Was sagt die Gewerkschaft dazu?

Felix Sassmannshausen
Wann kommt der Feierabend? Bürogebäude im Europaviertel in Frankfurt / Main.
Wann kommt der Feierabend? Bürogebäude im Europaviertel in Frankfurt / Main.

Noch vor einem Jahr tobte der Kampf um kürzere Arbeitszeiten. Diskutiert wurde die Einführung einer Vier-Tage Woche bei vollem Lohnausgleich. Und knapp 50 Jahre nachdem in den westdeutschen Kernbranchen der IG Metall die 35-Stunden-Woche erkämpft worden ist, soll sie ab 2029 in ostdeutschen Tarifbereichen gelten. Auch im Dienstleistungsbereich »wird Arbeitszeitverkürzung für die Beschäftigten zu einem immer wichtigeren Thema«, sagte Verdi-Gewerkschafter Marcus Bork.

Doch politisch hat sich der Wind gedreht. Die neue Regierung aus Unionsparteien und SPD plant eine Entgrenzung der Arbeit. So sollen Zuschläge für Mehrarbeit steuerfrei gestellt sowie der gesetzliche Acht-Stunden-Tag abgeschafft und durch eine Wochenhöchstarbeitszeit von 48 Stunden ersetzt werden, wie sie auch eine EU-Richtlinie erlaubt.

Auch wenn geltende Tarifregelungen durch das Vorhaben nicht angetastet werden, würde die schwarz-rote-Koalition die Uhr dennoch um mehr als ein halbes Jahrhundert zurückdrehen: Die 48-Stunden-Woche war in Westdeutschland 1967 abgeschafft worden. Seitdem galt die Fünf-Tage- und 40-Stunden-Woche. In der DDR war ebenfalls Mitte der 1960er Jahre die Fünf-Tage-Woche (zunächst zweiwöchentlich) beschlossen worden.

Ehemals gewerkschaftliche Kernforderung

Mit ihrem Vorhaben, den Acht-Stunden-Tag abzuschaffen, wendet sich die neue Regierung gegen eine historische Errungenschaft der Arbeiter*innenbewegung, erklärt Chaja Boebel im Gespräch mit »nd.DieWoche«. Die Historikerin ist im Ressort Grundsatzfragen und Gesellschaftspolitik des IG-Metall-Vorstands tätig. »Im 19. Jahrhundert gehörte der Acht-Stunden-Tag zu den gewerkschaftlichen Kernforderungen«, sagt sie. »Es ging um eine Humanisierung der Arbeitswelt.«

In Deutschland wurde der sogenannte Normalarbeitstag erstmals im Zuge der Novemberrevolution von 1918 mit dem Stinnes-Legien-Abkommen[1] festgeschrieben, einem historischen Kompromiss zwischen Gewerkschaften und Unternehmensverbänden. Damit sollte die künftige sozialdemokratisch geführte Regierung stabilisiert und einer weiterführenden Revolution der Wind aus den Segeln genommen werden. Bereits 1923 setzten sich die Unternehmen im Zuge der ersten Weimarer Inflationskrise durch und weichten die Regelung wieder auf.

Unter den Nationalsozialisten wurde der Lohnarbeitstag im Sinne der völkischen Ideologie für die Kriegswirtschaft weiter entgrenzt und mit bis zu 60 Wochenstunden voll ausgeschöpft. Zwar ordnete der Alliierte Kontrollrat nach dem Sieg über Nazi-Deutschland den Achtstundentag formal wieder an, damals aber noch im Rahmen einer Sechs-Tage-, also 48-Stunden-Woche.

»Das Gros unserer Mitglieder hat ein klares Verlangen nach einer 35-Stunden-Woche.«

Chaja Boebel IG Metall

Dahin könnte die schwarz-rote Koalition nun wieder zurückkehren, womit sie auf großen Zuspruch der Unternehmensverbände stößt. »Die geltenden Regelungen entsprechen nicht mehr der Lebenswirklichkeit der Beschäftigten«, heißt es in einer Stellungnahme der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeber zum Koalitionsvorhaben. Mit der Ausweitung der Arbeitszeit will man dem akuten Arbeitskräftemangel begegnen und erhofft sich bessere Wettbewerbsbedingungen gegenüber der europäischen und außereuropäischen Konkurrenz.[2]

Kritiker*innen wenden dagegen ein, dass eine weitere Entgrenzung der Arbeit gesundheitliche Risiken birgt. Arbeitstage von über zehn Stunden »müssen als hochriskant eingestuft werden«, warnt etwa die HSI-Arbeitsrechtsexpertin Amélie Sutterer-Kipping. Zu den Gesundheitsrisiken gehören psychosomatische Beschwerden, Herz- und Kreislauferkrankungen, Magen-Darm-Beschwerden oder Schlafstörungen. »Zudem erhöht sich durch Übermüdung infolge überlanger Arbeitszeiten das Risiko von Arbeitsunfällen«, schreibt sie.

Auch würde eine Verlängerung der Arbeitszeiten bestehende Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern verschärfen, kritisiert die Soziologin Yvonne Lott vom gewerkschaftsnahen Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut. Frauen kümmern sich schon jetzt überproportional häufig um die unbezahlte Sorgearbeit und arbeiten dafür mehr in Teilzeit. »Für sie wird es schwerer, ihre Arbeitszeit auszuweiten, wenn beispielsweise der vollzeitbeschäftigte Partner noch länger im Erwerbsjob arbeitet und weniger Zeit für Sorgearbeit hat«, erklärt sie.

Steuerbefreiung wahrscheinlich rechtswidrig

Mit der Kritik konfrontiert, erwidert die SPD, dass der Handlungsbedarf vor allem im Ausbau der Betreuungsinfrastruktur liegt. »Hier haben wir mit der Einigung auf die 500 Milliarden Euro zusätzliche Investitionen in die Infrastruktur, die die Kinderbetreuung ausdrücklich einschließt, den Gestaltungsraum deutlich erweitert«, erklärt ein Sprecher. Das mag in Teilen stimmen. Doch »Abweichungen vom Acht-Stunden-Tag und finanzielle Anreize für Mehrarbeit gehen in die völlig entgegengesetzte Richtung«, kritisiert Soziologin Lott.

Die zudem von der Koalition geplante Steuerbefreiung von Arbeitszeiten, die über 34 Wochenstunden mit und 40 ohne Tarifvertrag hinausgehen, dürften rechtswidrig sein. Denn ähnliche Regelungen, die sich auf Überstundenzuschläge bezogen, wurden durch das Bundesarbeitsgericht und den Europäischen Gerichtshof bereits zurückgewiesen. Das diskriminierte Teilzeitkräfte und damit mittelbar Frauen, erklärt HSI-Direktor Ernesto Klengel. Denn sie können gar nicht auf die erforderlichen Stunden kommen. »Das aber plant die neue Bundesregierung, wenn sie Überstundenzuschläge für Vollzeitbeschäftigte steuerlich besserstellen möchte.«

Hier weicht die SPD auf Anfrage aus und erklärt, dass »die genaue gesetzliche Umsetzung der Vereinbarungen im Koalitionsvertrag selbstverständlich rechtlich geprüft wird.« Man wolle dazu den Dialog mit den Sozialpartnern führen.

Bei der IG Metall stellt man sich auf Widerstand gegen das Regierungsvorhaben ein. »Aus den Betrieben bekommen wir die Rückmeldung, dass die Leute das nicht einfach so hinnehmen wollen. Heute ist der Acht-Stunden-Tag ein Grundbedürfnis der Beschäftigten«, sagt Boebel von der IG Metall. »Klar gibt es Leute, die etwa in Hightech-Branchen arbeiten, die das anders sehen. Aber das Gros unserer Mitglieder hat ein klares Verlangen danach – und nach einer 35-Stunden-Woche«, unterstreicht sie.

Links:

  1. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1105853.achtstundentag-ein-stets-fragiler-kompromiss.html?sstr=stinnes-legien
  2. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1189955.aufruestung-sparen-fuer-die-kriegstuechtigkeit.html?sstr=stephan|kaufmann