nd-aktuell.de / 23.04.2025 / Politik / Seite 1

Bodo Ramelow: »Entsetzt, was der Koalitionsvertrag nicht enthält«

Der Linke-Politiker Bodo Ramelow über den schwarz-roten Koalitionsvertrag, sein Amt als Bundestags-Vizepräsident und die AfD

Interview: Wolfgang Hübner
»Wir brauchen ein Bild vom Osten Deutschlands, das nicht nur aus Problemen und Kosten besteht«, meint Bodo Ramelow.
»Wir brauchen ein Bild vom Osten Deutschlands, das nicht nur aus Problemen und Kosten besteht«, meint Bodo Ramelow.

Bodo Ramelow, man kennt Sie als meinungsstarken, auch impulsiven Politiker. Seit Kurzem sind Sie Vizepräsident des Bundestags. Haben Sie kurz überlegt, ob so ein Amt, in dem es stark auf Neutralität und Vermittlung ankommt, für Sie das Richtige ist?

Mir ist klar, dass ich mir in dem Moment, wo ich als Vizepräsident agiere, keine Parteilichkeit erlauben darf. Trotzdem bleibe ich ein politisch denkender Mensch. Diese Ambivalenz kenne ich ja schon aus meiner Zeit als Ministerpräsident. Auch in diesem Amt musste ich mich politisch neutral verhalten. Das habe ich nach einer Klage der NPD vom Landesverfassungsgericht bescheinigt bekommen, über die ich mich als Regierungschef eindeutig geäußert hatte.

Sie hatten im Thüringer Landtag mal einen AfD-Abgeordneten nach einer infamen Wortmeldung als »widerlichen Drecksack« bezeichnet. Für so etwas müssten Sie künftig anderen einen Ordnungsruf erteilen.

Das brachte mir eine Strafe von 5000 Euro ein. Dass die Staatsanwaltschaft dafür ein oder zwei Sozialprojekte ausgewählt hat, denen das Geld zugutegekommen ist, hat mir sehr gefallen. Die Strafe musste ich zahlen, weil ich bei diesem Ausruf und dem damit verbundenen Mittelfinger im Plenarsaal auf dem Platz des Ministerpräsidenten saß. Hätte ich das als Abgeordneter getan, wäre es wohl beim Ordnungsruf geblieben. Als Vizepräsident des Bundestags bin ich dafür zuständig, dass im Plenarsaal alle das gleiche Recht haben, ihre Argumente vorzutragen. Ob sie mir gefallen, spielt dabei keine Rolle.

Mit der Kanzlerwahl Anfang Mai werden Bundestag und die neue Regierung richtig zu arbeiten beginnen. Der schwarz-rote Koalitionsvertrag[1] liegt vor, CDU-Chef Friedrich Merz spricht von einem Aufbruch. Sehen Sie den auch?

Jetzt spreche ich nicht als Präsidiumsmitglied, sondern als Abgeordneter aus Ostdeutschland und sage: Ich bin entsetzt darüber, was dieser Koalitionsvertrag alles nicht enthält. Damit meine ich nicht nur linke Forderungen wie Vermögensbesteuerung, Erbschaftssteuer, Reichensteuer.

Das war von Merz auch nicht zu erwarten.

Nein. Vor allem bin ich aus ostdeutscher Perspektive entsetzt darüber, wie knapp das Thema Osten abgehandelt wird. Eine lapidare Bemerkung in der Präambel, und im gesamten Text kein Kapitel zum Osten, kein geschlossener Absatz, keine Zwischenüberschrift. Ich hätte mir gewünscht, dass der Osten als Kraftquell für die Transformation beschrieben wird, die dem ganzen Land bevorsteht. Wir brauchen ein Bild vom Osten Deutschlands, das nicht nur aus Problemen und Kosten besteht[2].

Wie wichtig sind die Ost-West-Unterschiede noch? Es gibt ja Struktur- und Wirtschaftsunterschiede zwischen starken und schwachen Regionen, die sich durch die ganze Bundesrepublik ziehen.

Ja, es gibt auch ein Nord-Süd-Gefälle in den alten Bundesländern. Die Frage ist aber, welche Gefahren darin liegen, wenn es nach fast 35 Jahren deutscher Einheit weiter krasse Ost-West-Unterschiede zum Beispiel bei Vermögensverhältnissen gibt. Oder in der Tatsache, dass die Konzernzentralen im Westen sitzen und vor allem dort Steuern bezahlt werden, während der Osten als verlängerte Werkbank zwar viel dazu beiträgt, dass Deutschland stark ist, aber am wenigsten davon hat. Und dann muss man sich noch emotional beschimpfen lassen.

Nehmen Sie Ostbeschimpfungen wahr?

Das schwingt mit, wenn es etwa um die Produktivitätslücke zwischen Ost und West geht. Was dabei ausgeblendet wird: dass beispielsweise jeder dritte Daimler auf der Welt seinen Motor aus Thüringen kriegt. In Thüringen hängt jeder vierte Arbeitsplatz am Automobil, direkt und indirekt. Aber abgerechnet wird das alles in Stuttgart.

Welche speziellen ostdeutschen Erfahrungen könnten die gesamte Gesellschaft bereichern?

Das Thema Bildung zum Beispiel. Längeres gemeinsames Lernen und eine frühere berufliche Orientierung. So etwas wie der Unterrichtstag in der Praxis, was wir in Thüringen wieder eingeführt haben. Die Verbindung von Abitur und Berufsausbildung, da haben wir in Thüringen inzwischen drei Handwerkergymnasien. Kindergärten mit zehn Stunden Servicezeit; das ist in Thüringen normal, im Westen weitgehend unbekannt. Oder nehmen wir das Gesundheitswesen: Die Trennung zwischen ambulant und stationär gehört dringend aufgehoben. Wir brauchen Landambulatorien mit Krankenschwestern, die im ländlichen Raum Patienten versorgen dürfen. Also Stichwort Schwester Agnes. Das ist in Westdeutschland völlig unbekannt, im Osten kommt es wieder.

Immerhin gibt es – noch vom alten Bundestag beschlossen – neben den vielen Milliarden für Rüstung auch ein 500-Milliarden-Sondervermögen für Infrastrukturmaßnahmen in Ost und West. Ein ziemlicher Batzen.

Das hört sich nach einem großen Batzen an, relativiert sich aber schnell, wenn man sieht, welche Aufgaben zu stemmen sind. 500 Milliarden Euro auf zwölf Jahre verteilt, das ist weniger als der Durchschnitt der investiven Mittel, die der Bundeshaushalt sowieso hat. Und es gibt Riesenprobleme. Zum Beispiel sind 60 Prozent aller Stellwerke der Bahn in Deutschland noch mechanisch. Wenn wir solche Ziele wie Verkehrswende und Klimaschutz ernst nehmen, müssten wir allein 150 Milliarden Euro ins Eisenbahnsystem investieren. Oder die in Dresden eingestürzte Carola-Brücke. Das ist Hennigsdorfer Spannstahl, der war seinerzeit revolutionär, nun kommt er in die Jahre und leidet unter Korrosion. Allein von der Sorte haben wir ungefähr 4000 Brücken, die geprüft und eventuell erneuert werden müssen.

Ist es für Sie ein Pluspunkt im Koalitionsvertrag[3], dass in Ostdeutschland verstärkt Rechenzentren angesiedelt werden sollen?

Was ich als bitter empfinde, ist, dass quer über den Vertrag verteilt ein paar Sachen für den Osten versteckt sind, wie Ostereier. Rechenzentren brauchen sehr viel Energie. Man hätte also im Zusammenhang damit den Ausstieg aus der Braunkohle mit dem Thema Wasserstoff verbinden und als ostdeutsches Megathema aufsetzen können. Zumal wir in Sachsen, Thüringen und Brandenburg Forschungseinrichtungen haben, die sich mit Batterie- und Wasserstofftechnik beschäftigen. Ich frage mich, wo die ostdeutschen Ministerpräsidenten bei den Koalitionsverhandlungen waren.

»Jeder vierte Daimler-Motor kommt aus Thüringen. Aber abgerechnet wird in Stuttgart.«

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Ihr Amtsnachfolger in Thüringen, Mario Voigt (CDU), liest aus dem Koalitionsvertrag ab, dass der Osten zur Zukunftsregion wird.

Ich verstehe nicht, wo er das erkennt. Vielleicht hat er das mit Zwiebeltinte in den Vertrag reinverhandelt.

Das Deutschlandticket soll erhalten bleiben, aber mittelfristig teurer werden. Wie bewerten Sie das verkehrspolitisch und ökologisch?

Wer es verteuert, macht es für immer weniger Menschen attraktiv. Wenn wir die Bahn zum Herzstück der Verkehrswende machen wollen, und das müssen wir, dann brauchen wir aber zuallererst den Deutschlandtakt, also gute, kundenfreundlich koordinierte Fahrpläne. Von dem redet gar keiner mehr. Erst damit wäre das Deutschlandticket richtig interessant. Dazu muss in viele Bahnstrecken massiv investiert werden. Ich habe kürzlich im Tarifstreit beim Berliner Verkehrsunternehmen BVG geschlichtet[4]. Dabei ist mir wieder klar geworden, wie viel auch im Nahverkehr, bei Straßenbahnen modernisiert werden müsste.

Sie haben gemeinsam mit dem SPD-Politiker Matthias Platzeck geschlichtet und Lohnsteigerungen von 15 bis 20 Prozent empfohlen, die im Prinzip so vereinbart wurden. Wie bringt man einem Unternehmen so spektakuläre Zahlen bei?

Das sieht nur auf den ersten Blick spektakulär aus. Zum einen verteilen sich die Steigerungen über zwei Jahre. Und dann hat die Gewerkschaft Verdi ausgerechnet, wie viel Kaufkraft den Kollegen seit Langem inflationsbedingt verloren gegangen ist. Da relativieren sich die 20 Prozent. Außerdem will das Unternehmen, dass auch in Zukunft Menschen Bus- oder U-Bahn-Fahrer werden möchten. Aber viel wichtiger ist meines Erachtens das Thema Arbeitszeitsouveränität. Die Zukunft der Arbeit liegt darin, dass man sich orientiert an 35 Stunden pro Woche bei vier Tagen Regelarbeitszeit. Die Leute können entscheiden, wie sie die Zeit in der Woche einteilen oder ob sie länger arbeiten möchten. Das ist der Schlüssel dafür, dass sie Arbeit und Familie gut koordinieren können. In Eisenberg in Thüringen wird das im Krankenhaus realisiert. Seitdem hat sich die Bewerberzahl vervielfacht.

Die kommende Koalition will den Acht-Stunden-Tag lockern und sich an einer EU-Richtlinie orientieren, in der es um eine flexible Wochenarbeitszeit von 48 Stunden geht.

Das ist der Versuch, die Hoheit über die Flexibilität wieder auf die Seite der Arbeitgeber zu ziehen. Der Begriff Flexibilisierung hat lange Zeit Angst bei Beschäftigten ausgelöst. Sicherlich müssen Unternehmen auf Probleme, Stoßzeiten oder eine veränderte Auftragslage reagieren können. Aber was nicht geht, ist, aus den Beschäftigten auf Kosten ihrer Gesundheit immer noch mehr rauszuholen.

Der CDU-Politiker Jens Spahn will das Verhältnis zur AfD lockern[5]; er will sie wie eine normale Oppositionspartei behandeln. Soll man der deutlich stärker gewordenen AfD-Fraktion Plätze im Bundestagspräsidium und an der Spitze von Ausschüssen zubilligen?

Diese Posten stehen den Fraktionen je nach Größe zu. Aber die frei gewählten Abgeordneten sind nicht gezwungen, jede zur Wahl stehende Person zu wählen. Dabei spielt auch die Frage eine Rolle, wer sich an demokratische, parlamentarische Regeln hält und wer nicht. Ich habe bei der Konstituierung des Thüringer Landtags erlebt, wie die AfD sich nicht an Regeln und Absprachen gehalten hat. Und wenn Herr Brandner von der AfD in der ersten Sitzung des neuen Bundestags der Rednerin der Grünen das Schimpfwort »Kinderschänderpartei« zuruft, dann habe ich Befürchtungen, in welcher Tonalität das weitergehen soll. Ich erwarte von der AfD, dass dort über solche inakzeptablen Vorkommnisse gesprochen wird.

In der letzten Wahlperiode gab es eine Initiative für ein AfD-Verbot. Sind Sie für einen neuen Anlauf?

Das ist letztlich eine juristische Auseinandersetzung. Ich wundere mich allerdings darüber, dass die Voraussetzungen dafür noch immer nicht vorgelegt wurden. Also dass etwa das nötige Gutachten des Verfassungsschutzes noch immer nicht vorliegt. Da ist auch die Kandidatur des noch bis 2024 amtierenden Verfassungsschutz-Präsidenten Haldenwang bei der Bundestagswahl für die CDU einfach kontraproduktiv. Aber das ist nur die eine Seite. Wir müssen deutlicher und offener darüber sprechen, wie viele Menschen sich inzwischen von rechts unter Druck gesetzt fühlen, weil sie anderer Hautfarbe, anderer Herkunft, anderen Glaubens oder anderer Meinung sind als die Rechten. In den USA werden jetzt viele Bücher aus Schulen verbannt, darunter das Tagebuch von Anne Frank. Alles, was irgendwie als unamerikanisch gilt. Übrig bleibt Trumps schöne weiße Welt. Wenn das die Welt ist, von der auch die AfD träumt[6], dann muss sich jeder fragen, ob es die Gesellschaft ist, in der er leben will.

Links:

  1. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1190535.grosse-koalition-groko-stille-und-ampel-noise.html?sstr=Koalitionsvertrag
  2. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1190525.koalitionsvertrag-der-osten-als-kostenfaktor.html?sstr=Koalitionsvertrag
  3. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1190470.koalitionsvertrag-koalitionsvertrag-finanzierungsvorbehalt-fuer-soziales.html?sstr=Frielinghaus
  4. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1190434.bvg-bvg-verdi-schlichtung-unbefristeter-streik-in-berlin-abgewendet.html?sstr=BVG
  5. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1190538.unionsfraktionsvize-jens-spahn-mitverantwortlich-fuer-normalisierung-der-afd.html?sstr=Koalitionsvertrag
  6. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1190472.koalitionsvertrag-neue-bundesregierung-gibt-keine-antwort-auf-die-afd.html?sstr=Koalitionsvertrag