Religion widerspricht per Definition der Vernunft: Wenn etwas einsichtig, gut belegt und allgemein nachvollziehbar ist, braucht man keinen Glauben, um es für wahr zu halten. Der Glaube hingegen konnektiert unseren Geist mit allerlei Märchengeschichten, ob sie nun vom Weihnachtsmann handeln, von Karma oder vom lieben Gott, und wer ein Schutzmäntelchen drüberdecken will, nennt derlei Eingebungen: Spiritualität[1].
So entwirft die Religion eine Gegenwelt zur täglich erlebten faktischen Welt, und immer wieder muss sie daher die nervigen Nachfragen des gesunden Menschenverstands abweisen. Gern wehrt sie sich, indem sie eine unantastbare Aura aus Heiligkeit erzeugt. Wenn sie kann, verbündet sie sich mit der weltlichen Macht, um Nachfragen auszuschalten, etwa: Wie könnt ihr ernsthaft behaupten, diesen ganzen Unsinn zu glauben? Oder glaubt ihr das etwa wirklich? Und wieso dürft ihr schon Kinder mit eurem Quatsch bombardieren?
Solche Fragen werden von Großreligionen wie von kleineren Sekten nach Kräften unterdrückt, dringen aber, wie Gänseblümchen[2] zwischen Beton, immer wieder ans Tageslicht. Helden der Hartnäckigkeit sind dabei oft Menschen, die selbst religiös indoktriniert worden sind, ihren angeborenen Verstand aber einfach nicht aufgeben können oder wollen. Einer von ihnen war der Hamburger Orientalist Hermann Samuel Reimarus (1694–1768): Eben weil er an einen vernünftigen Gott glaubte, empfand er die intellektuellen Zumutungen der Bibel besonders schmerzhaft, und er attackierte viele ihrer Inhalte, noch bevor die Theologie ihre moderne Ausrede erfunden hatte: Das sei ja alles nur allegorisch gemeint.
Sein Hauptwerk »Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes« hinterfragte die buchstäbliche Glaubwürdigkeit der Bibel, letztlich also ihren göttlichen Ursprung. Wie sollte so ein krudes Werk von einem allmächtigen, perfekten Weltenschöpfer stammen? Reimarus ließ das nicht los, er rang mit seinem heiligen Buch. Besondere Sorgfalt widmete er der Ostergeschichte: Hier kann das verwitterte, wirre, wacklige Gebäude christlicher Theologie besonders leicht zum Einsturz gebracht werden.
Mit Witz und Akribie zerlegte Reimarus ab 1735 bis zu seinem Tod die Geschichte von der Auferstehung des hingerichteten Jesus. Schon die knappe Schilderung in der Bibel erregte seinen Argwohn: Wieso wird dieses weltgeschichtliche Topereignis auf ein paar dürren Zeilen abgehandelt? Warum gibt es vier Versionen, die alle voller Ungereimtheiten sind und einander widersprechen? Reimarus wurde förmlich gezwungen, zum Quellenkritiker zu werden.
Am wenigsten Glauben schenkte er Matthäus, der die fragwürdige Mär von der Auferstehung mit vielen Special Effects verziert: Bei ihm gibt es Erdbeben, es kommt ein Engel vom Himmel geschossen und wälzt den schweren Stein beiseite, und das Grab ist leer. Matthäus widerspricht damit allen anderen Evangelien, und interessanterweise hat er auch noch eine Exklusivgeschichte. Nach dem Osterwunder, schreibt Matthäus, sei ein Gerücht aufgekommen: Die Jesusjünger hätten den Leichnam ihres Anführers gestohlen und verschwinden lassen! Reimarus merkt an dieser Stelle auf: Wieso muss dieses Gerücht hier bekämpft werden, mitten in der Bibel? Vielleicht, weil es neben der Auferstehungsstory so glaubwürdig wirkt?
Detailliert geht Reimarus alle biblischen Angaben zum Geschehen durch, ganz als fühlte er vor Gericht einem zwielichtigen Zeugen auf den Zahn: Wieso weiß der Hohe Rat von der bevorstehenden Auferstehung und lässt das Grab scharf bewachen, die Jünger aber fallen aus allen Wolken, als sie vom Verschwinden des Leichnams erfahren? Wieso marschieren sie wohlgemut zum Grab, um Jesus in Kräuter und Tücher zu wickeln – sollte ihnen die Versiegelung und scharfe Bewachung des Grabes entgangen sein? Wieso bemerken die Frauen im Markus-Evangelium das Erdbeben nicht, das durchs Matthäus-Evangelium poltert, wieso begegnen sie beim Grabbesuch keinen Wächtern? Punkt um Punkt zerpflückt Reimarus die Überlieferung, und er benennt den Elefanten im Raum: Wieso hat der allmächtige Gott bei diesem Highlight nicht für eine angemessene Inszenierung gesorgt?
»Denn (…) wollte Gott Jesum zum Wunder aller Welt erwecken, warum sollte er es nicht bey Tage, vor aller Welt Augen, thun? Warum sollte er die Sache so veranstalten, daß, wenn einer auch noch so frühe zum Grabe käme, derselbe schon das Grab offen und ledig fände, und nicht den geringsten Unterschied merkte, als wenn der Körper heimlich aus dem Grabe weggestohlen sey?«
Fragwürdig schien ihm auch die Zeit nach der angeblichen Auferstehung, jene Wochen, in denen Jesus noch durchs Land gewandelt sein soll, um ab und zu exklusiv seinen Jüngern zu erscheinen …
»In aller der Zeit von vierzig Tagen, da Jesus soll auferstanden seyn, und unter ihnen gewandelt haben, sagen sie keinem unter uns ein Wort, daß er wieder lebe, damit wir auch zu ihnen kommen und Jesum sehen und sprechen könnten; sondern nach vierzig Tagen, da er schon soll gen Himmel gefahren seyn, gehen sie erst aus und sprechen, er sey da und dort gewesen. Frägt man sie, wo war er denn? Wer hat ihn denn gesehen? So ist er bey ihnen im verschlossenen Zimmer gewesen, ohne daß eine Thür aufgegangen, ohne daß ihn jemand hat können kommen oder weggehen sehen: So war es auf dem Felde, in Galilea am Meere, auf dem Berge. Mein! Warum nicht im Tempel? Vor dem Volke?«
Ganz bescheiden blieb der Sohn Gottes aber inkognito, ehe er abseits der Öffentlichkeit in den Himmel flog. Bei der Einschätzung des eigenen Nachruhms hatte er ebenfalls auf Understatement gesetzt: Nach heutigem Forschungsstand ging der Wanderprediger wohl davon aus, noch zu Lebzeiten seiner Jünger werde ein jüdischer König ein neues weltliches Königreich Judäa errichten. Am Kreuz hängend, ließ Jesus wenig Vorahnung erkennen, dass er selbst bald als Gott ausgerufen und eine Weltreligion um seinen Namen gestrickt würde.
Hermann Samuel Reimarus hatte da eine realistischere Einschätzung von der eigenen Auferstehung, dem Weiterleben in der Nachwelt: Zeit seines Lebens traute er sich nicht, seine Hauptschrift zu veröffentlichen. Nach seinem Tod tat das dann Lessing, anonym, unter dem Titel »Fragmente eines Ungenannten«. Der Skandal war enorm. Niemand wird ja wütender als religiöse Dogmatiker, die einfache Fragen nicht beantworten können.
Reimarus hatte es wohl so ähnlich kommen sehen; an ihm ging der Rummel glücklicherweise vorbei, denn er war nicht mehr da. Sein Körper lag ruhig und kalt im Grab und verfiel, so wie die Körper aller Leute. Immerhin, anders als Jesus hinterließ Hermann Samuel Reimarus klare, nachvollziehbare Schriften, deren Scharfsinn und Esprit auch heute noch begeistern. In einem Deutschland, das den Filz zwischen Kirche und Staat seit Ewigkeiten kultiviert, wurde dieser mutige, gute Denker natürlich chronisch, so gut es ging, ignoriert.
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/1190673.osterwunder-kritik-der-auferstehung.html