nd-aktuell.de / 16.04.2025 / Politik / Seite 1

Thomas Walter: »Die SoKo nannten sie ›Osterei‹«

1995 musste Thomas Walter nach einem gescheiterten Anschlag auf das Abschiebegefängnis Grünau untertauchen. Nach 30 Jahren Flucht ist er zurück

Interview: Matthias Monroy und Raul Zelik
Mittlerweile Landwirte: Peter Krauth und Thomas Walter nach ihrer Rückkehr in Berlin
Mittlerweile Landwirte: Peter Krauth und Thomas Walter nach ihrer Rückkehr in Berlin

Vielleicht klären Sie uns erst mal darüber auf, worüber wir sprechen dürfen. Sie sind ja verurteilt und haben Bewährungsauflagen.

Eigentlich nicht, nein. Der Richter war ganz froh, als wir klar gemacht haben, dass wir bald wieder nach Venezuela ausreisen wollen. Das Einzige, was ich vermeiden möchte, ist Leute, die uns auf der Flucht geholfen haben, persönlich zu nennen.

Gut, dann begeben wir uns direkt in die Nacht des 11. April 1995: In Berlin-Grünau entdeckt eine Polizeistreife zwei verlassene Fahrzeuge auf einem Waldparkplatz. In einem befinden sich Sprengsätze. Was war da los?

Mit den Sprengsätzen sollte das Abschiebegefängnis Grünau, das damals gebaut wurde, zerstört werden. Eines der beiden Fahrzeuge war geklaut und als Tatfahrzeug gedacht. Auf dem Waldparkplatz sollten die Kennzeichen eines baugleichen Fahrzeugs draufgeschraubt werden – um es unauffällig in Berlin bewegen zu können. Doch gerade, als die Nummernschilder ausgetauscht werden sollten, kam die Streife vorbei. Ein saudummer Zufall.

Was ist dann passiert?

Es wurde erst einmal stundenlang im Gebüsch gelegen, danach sind wir untergetaucht.

Darüber wurde damals viel gespottet: Die Polizei hatte Ausweispapiere im Fluchtfahrzeug gefunden ...

Es gab ein legales Fahrzeug, mit dem wir uns bewegt haben. Darin lagen Papiere, falls es zu einer Personenkontrolle kommt. Wenn man zu einem Anschlag geht, nimmt man seine Papiere ja nicht am Körper mit. Sie könnten aus der Tasche fallen. Es war eine Verkettung von Zufällen.

Nicht auch Fehlern …?
Natürlich. Der schlimmste Fehler war, dass wir das zweite Auto bei einer Person ausgeliehen hatten, die nichts vom Plan wusste. Es war Peters Schwester, sie hat sich am nächsten Tag selbst gestellt. Obwohl der Polizei sofort klar war, dass sie mit dem geplanten Anschlag nichts zu tun hatte, wurde sie von der Bundesanwaltschaft (BAW) sechs Wochen lang festgehalten – sozusagen als Geisel, damit sich Peter stellt. Sie war zu diesem Zeitpunkt schwanger und hatte im Anschluss eine Fehlgeburt.

Uns war klar, dass die Bundeswehr nichts an Schlagfähigkeit einbüßt, wenn wir die Kantine einer Kaserne in Brand setzen.

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Was genau hatten Sie am Gefängnis Grünau vor?

Der Plan war, mit den vier Gasflaschen die tragenden Säulen des Abschiebeknastes so zu beschädigen, dass er aus baurechtlichen Gründen wieder abgerissen werden muss. Uns war klar, dass man mit vier Gasflaschen „Unkraut-Ex“ kein Gebäude in die Luft jagen kann. Aber mithilfe des Baurechts hätten wir den Bau durchaus stoppen können.

Können Sie der Generation Z erklären, was Unkraut-Ex ist?

Ein Natriumchlorat, das als Pflanzengift eingesetzt wird und damals in Säcken frei verkäuflich war – nicht in Deutschland, aber in Frankreich zum Beispiel. Für einen Sprengstoff braucht man zwei Komponenten: Die eine muss brennen, die andere den Sauerstoff liefern. In unserem Fall war das brennende Material Puderzucker und das Natriumchlorat der Sauerstoffträger. Als Zünder haben wir Blitzbirnen verwendet, wie man sie früher beim Fotografieren eingesetzt hat. Dazu roten Phosphor, abgeschabt von Streichhölzern.

Klingt arg zusammengebastelt...

Funktionierte aber. Den gleichen Mechanismus hatten wir vorher am Kreiswehrersatzamt in Bad Freienwalde verwendet.

Für diesen Anschlag wurden Sie nicht verurteilt...

Er ist schon lange verjährt. Nur die Verabredung zur gescheiterten Aktion in Grünau seltsamerweise nicht.

In Grünau wollten Sie Abschiebungen verhindern. Worum ging es in Bad Freienwalde?

Uns war klar, dass die Bundeswehr nichts an Schlagfähigkeit einbüßt, wenn wir die Kantine einer Kaserne in Brand setzen. Aber wir wollten die Einmischung der Bundesregierung in andere Konflikte symbolisch sichtbar machen. Konkret ging es um die Unterstützung der Türkei im Kampf gegen die kurdische Bewegung. Mitte der 1990er Jahre lieferte Deutschland altes DDR-Militärmaterial an die Türkei, das dann gegen Zivilbevölkerung und die Arbeiterpartei PKK eingesetzt wurde. Als Internationalisten waren wir der Meinung, dass der deutsche Staat den Kampf gegen eine sozialistische Befreiungsbewegung nicht unterstützen darf. Was nicht bedeutet, dass wir PKK-Anhänger gewesen wären. Der Führerkult um ihren Vorsitzenden Öcalan überzeugte uns überhaupt nicht. Die PKK heute ist deutlich basisdemokratischer und feministischer orientiert als damals.

Wie sind Sie darauf gekommen, dass Anschläge ein Mittel der Politik sein könnten?

In der Bewegung der 1980er Jahre gab es eigentlich immer eine Arbeitsteilung zwischen legaler und illegaler Politik. Die einen haben Öffentlichkeitsarbeit gemacht, die anderen klandestine Aktionen. Wir selbst haben uns dazwischen bewegt. Wir haben die Berliner Programmzeitung »Zitty« in Kneipen verkauft und die Einnahmen für die Knastkasse gespendet, hie und da aber auch Sabotageaktionen gemacht. Mit dem Fall der Mauer ist die autonome Bewegung zerfallen, und wir spürten die Notwendigkeit, uns stärker auf militante Sachen zu konzentrieren. Wir fanden, dass die Bewegung etwas braucht, das Mut macht.

Sie haben einmal berichtet, dass Sie damals auch Ladendiebstähle in großen Geschäften organisierten.

Ja, wir haben teure Geschäfte geöffnet und die Sachen auf der Straße verteilt. Oft kamen Nachbar*innen direkt mit rein und haben sich bedient. Umverteilung war ein ganz wichtiger Ansatz für uns. Nicht das Eigentum der kleinen Leute, versteht sich, sondern das der Reichen.

Die Aktion in Grünau erinnert an den letzten Anschlag der RAF auf das Gefängnis in Weiterstadt. Die Form Ihrer Organisierung war aber eher wie bei den »Revolutionären Zellen«. Spätere militante Gruppen haben indes lieber auf einen Namen verzichtet.

Wir haben uns als Teil einer jahrhundertelangen Tradition begriffen und wollten so etwas wie bewaffnete Propaganda machen. Sprich: Es ging uns eher darum, Herzen zu erreichen, als wirklich etwas lahm zu legen. Und für eine öffentliche Wirksamkeit war ein Name wichtig, obwohl das den Repressionsdruck deutlich erhöht. Der Staatsapparat kann dann nämlich Aktionen der ganzen Gruppe zuordnen und muss keine individuelle Tatbeteiligung nachweisen. Die Abkürzung stand übrigens für »Kollektiv organisierte militante Internationalisten tun es einfach«.

Kommen wir zurück zum 11. April 1995. Haben Sie sich sofort entschieden unterzutauchen?

Wir sind erst mal in eine Wohnung von einem Freund, der ziemlich geschockt war. Dann haben wir überlegt, wo wir die nächsten Wochen hingehen könnten. Es war schnell klar, dass wir nicht in den Untergrund gehen würden, um weiter Aktionen zu machen. Dafür waren wir nicht gut genug vernetzt. Es gab in der Bewegung auch keinen Konsens mehr, dass militante Aktionen zu linker Politik dazugehören.

Waren das moralische Einwände gegen die Gewalt?

Die Bewegung hatte moralische Kriterien definiert. Für uns kam nicht in Frage, Menschen zu töten. Nicht, weil wir das grundsätzlich inakzeptabel gefunden hätten. Zum Beispiel finde ich es richtig, dass der Islamische Staat militärisch bekämpft wurde – obwohl dabei Menschen starben. Bei der Gewaltfrage kommt es immer auf die Umstände an. Aber ein Menschenleben ist ein sehr hohes Gut, und für uns war klar, dass wir niemanden gefährden wollten. Ich glaube deshalb, dass es den meisten damals eher um einen politischen Rückzug als um moralische Probleme ging. 1989 stand für viele für eine Art »Ende der Geschichte«.

Es ist wohl auch so, dass viele damals das alte linke Lagerdenken infrage zu stellen begannen.

Ja, man merkte, dass die gefeierten Befreiungsbewegungen gar nicht immer so gut gewesen waren – die Sandinisten in Nicaragua zum Beispiel …

Trotzdem gingen Sie zu Linken nach Lateinamerika. Wie war es, dort in einem anderen Kontext ganz neu anzufangen?

Wir drei hatten einen sehr unterschiedlichen Umgang mit dem neuen Leben in der Klandestinität. Dementsprechend fanden wir anfangs auch kein gemeinsames Projekt, wo wir alle reingepasst hätten. Mir fiel die Anpassung wahrscheinlich am leichtesten. Auch weil ich sehr unter dem Niedergang der linken Bewegungen in Deutschland gelitten hatte und die Flucht deshalb auch etwas Befreiendes für mich besaß. Trotzdem gab es Dinge, die mir extrem schwerfielen – der Bruch mit der Familie und den Freund*innen etwa.

Konnten Sie überhaupt keinen Kontakt mit der Familie halten?

Anfangs habe ich das versucht. Ich schrieb Briefe für meine Eltern an Nachbar*innen, aber leider warfen meine Eltern die Briefumschläge nicht weg, so dass sich nachverfolgen ließ, von wo die Post geschickt worden war. Oder der Vater erwähnte den Brief am Telefon, und es kam zu Hausdurchsuchungen. Mir wurde klar, dass meine Familie auf die Situation nicht vorbereitet war, und deshalb habe ich ihnen jahrelang nicht mehr geschrieben, um Dritte nicht zu gefährden. Was wir dagegen immer hatten, war ein ausgefeiltes, sehr effizientes Kommunikationssystem mit Genoss*innen. Das war Teil der Erfolgsgeschichte unserer Flucht: Wir schafften es, den Kontakt jahrzehntelang nicht abreißen zu lassen. Wir waren nie auf uns allein gestellt.

Überall, wo wir hinkamen, gab es Einzelpersonen, die unsere Geschichte kannten und uns halfen, uns zu integrieren.

Können Sie etwas dazu sagen, wie Sie kommunizierten?

Ich kann Ihnen sogar den Quellcode für das Programm geben. Normale Verschlüsselungssysteme wie PGP beruhen ja auf einem Algorithmus, der sich bei sehr großer Rechnerleistung theoretisch knacken lässt. Wir hingegen haben ein System benutzt, bei dem man Blöcke von zufällig generierten Daten zur Verschlüsselung verwendet und dabei verbraucht. Sprich: Empfänger und Absender haben den gleichen Datenblock. Die eine Seite addiert ihn, die andere subtrahiert ihn. Und danach ist der Datenblock weg. Das ist technisch nicht zu knacken und war schon in den 1990er Jahren unser System. Um die Gegenseite zu ärgern, haben wir das Ganze dann noch einmal mit PGP verschlüsselt und in einem dritten Schritt in großen Dateien versteckt – in Fotos zum Beispiel. Dafür gibt es eine sogenannte Stealth-Software. Weil viele Freund*innen dem System vertrauten, haben uns auch Leute geschrieben, die sich uns politisch nicht mehr verbunden fühlten, aber weiter ihre menschliche Nähe ausdrücken wollten. Für uns war das eine wirklich wunderschöne Sache.

Wie sind Sie auf der Flucht aufgenommen worden? Einige werden ja von Ihrer Geschichte gewusst haben.

Überall, wo wir hinkamen, gab es Einzelpersonen, die unsere Geschichte kannten und uns halfen, uns zu integrieren. Das war zentral. Sobald du in Lateinamerika jemanden hast, der für dich bürgt, bist du schnell Teil der Familie. Das war eine großartige Erfahrung: dass wir in so unterschiedlichen Kontexten herzlich aufgenommen wurden. Auch die meisten Leute, die nachträglich von unserer Geschichte erfuhren, haben gut reagiert. In engen Freundschaften oder Liebesbeziehungen kann man den Menschen ja nicht immer etwas vorlügen. Und ich kann mich an keine einzige Situation erinnern, wo jemand gesagt hätte: »Du bist ein Terrorist, mit dir will ich nichts mehr zu tun haben.« Das war allen entweder egal oder sie fanden es sogar gut. Die meisten Lateinamerikaner*innen haben ein sympathisch distanziertes Verhältnis zur Polizei. Sie betrachten sie eher als Besatzungsmacht.

Auch in Lateinamerika haben Sie dann allerdings politisch ernüchternde Erfahrungen sammeln müssen.

Zunächst einmal begann die Zeit der Revolutionen. Wir sind ungefähr 1997 angekommen und schon bald ging es mit den Linksregierungen in Venezuela, Brasilien, Ecuador, Bolivien los. Ich bin in einer politischen Organisation gelandet und war dort jahrelang tätig. Für mich war das eine ganz neue Erfahrung. Die Struktur war viel größer als die linken Gruppen, die ich aus Deutschland kannte, und ich fand es extrem interessant zu sehen, wie es ist, wenn sich eine Bevölkerung von alt bis jung gemeinsam organisiert. In Deutschland war politischer Aktivismus ja eher von Leuten geprägt, die nach der Schule ein paar rebellische Jahre machen. In Lateinamerika hingegen habe ich in einer Bewegung gearbeitet, die wie eine kleine Gesellschaft funktionierte. Das fand ich spannend, auch wenn mir vieles total unverständlich war und mir auch eine Menge stalinistische Relikte begegnet sind.

Die Linke in Lateinamerika ist auch deutlich weniger von Mittelschichten geprägt als in Deutschland. War das damals ein Kulturschock für Sie?

Mein Bezugspunkt lautete immer schon Arm-gegen-Reich. Deshalb hat die Organisation, bei der ich landete, schon irgendwie gepasst – allerdings war sie eher bäuerlich als proletarisch. Ich habe mich politisch aufgehoben gefühlt, obwohl mir manche Vorstellungen überholt vorkamen.

Irgendwo habe ich gelesen, dass Ihnen bei Ihrer Odyssee noch eine deutsche Internationalistin begegnet ist: die Ärztin Christa Baatz.

Stimmt. Das zentralamerikanische El Salvador war eine der Optionen, die wir damals hatten, und Peter ging dorthin. Weil das Land klein ist, landete er bald bei Christa Baatz. Die beiden haben sich später verliebt und waren jahrelang zusammen. Christa, Jahrgang 1942, stammte eigentlich aus Magdeburg, hatte wegen einer Liebe aber in den Westen rübergemacht und kam in den 1960er Jahren nach Hamburg.

... wo sie zum Kreis um den sozialrevolutionären Arzt und Theoretiker Karl-Heinz Roth gehörte ...

Christa hatte im Osten Medizin studiert und machte in Hamburg bei linken Gesundheitsprojekten mit. Ende der Sechziger schickte die Gruppe Christa nach Bolivien. Es gab dort Versuche, die zerschlagene Guerilla-Truppe Che Guevaras wieder aufzubauen.

1971 wurde in Hamburg auch der bolivianische Generalkonsul erschossen. Es war der Offizier, der Che Guevara hingerichtet hatte.

Ja, wahrscheinlich von Monika Ertl, der Tochter eines nach Bolivien ausgewanderten deutschen Nazis. Christa arbeitete wie Ertl für die bolivianische ELN-Guerilla. Sie ging nach La Paz, wo sie Deutschunterricht gab, um das Milieu der Oligarchen und Alt-Nazis auszuspionieren. Die bolivianische Guerilla wurde dann aber schnell zerschlagen, und Christa zog weiter nach Peru. Dort lernte sie einen holländischen Journalisten kennen, in den sie sich verliebte. Als er 1982 bei einer Recherche in El Salvador von der Armee ermordet wurde, zog sie nach Zentralamerika weiter und schloss sich der FMLN-Guerilla an. Während des Bürgerkriegs hat sie als Ärztin in Feldlazaretten Verwundete operiert. Das muss ziemlich krass gewesen sein. Nach dem Bürgerkrieg baute sie eine kleine Klinik mit auf, wo sie schließlich Peter kennenlernte. Als er nach Venezuela ging, ist sie zu ihm gezogen. Sie war ein ganzes Stück älter als er und ist 2015 an Krebs gestorben.

Sie betonen, dass Sie auf der Flucht viel gelernt hätten. Aber trotz der Aufbrüche, kam doch sicher auch der Moment, wo Sie nur nach Hause wollten?

Klar. Anfangs glaubten wir, dass sich unser Fall juristisch bald abschließen lassen würde. Es war ja nicht viel passiert, und unser Anwalt meinte, wir müssten von zehn Jahren Verjährungsfrist ausgehen. Außerdem waren wir immer offen zu verhandeln. Dafür muss man sich allerdings dem Zugriff der Polizei entziehen. Du kannst ja nicht verhandeln, wenn du schon einsitzt.

Was waren Ihre Bedingungen für einen Deal?

Die drei, unter denen wir jetzt verurteilt wurden: Wir wollten nicht ins Gefängnis, niemanden verraten und keine Reue zeigen müssen. Den ersten Verhandlungsversuch haben wir 2001 gestartet, aber das Angebot, das die BAW schickte, war für uns nicht annehmbar.

Und dann hat die BAW die Verjährungsfrist mit einem juristischen Kniff auf 40 Jahre hochgesetzt.

1995 Anschlagsziel der Gruppe »K.O.M.I.T.E.E.«: das ehemalige Abschiebegefängnis in Berlin-Grünau.
1995 Anschlagsziel der Gruppe »K.O.M.I.T.E.E.«: das ehemalige Abschiebegefängnis in Berlin-Grünau.

Das war ein echter Schock für uns! Ich glaube nicht, dass wir uns auf die Flucht eingelassen hätten, wenn wir das vorher gewusst hätten. Die Verabredung zu einem gescheiterten Anschlag wog plötzlich schwerer als eine durchgeführte Aktion. Überhaupt war das Verhalten des Staates völlig überzogen. Am Anfang haben uns die Bullen wegen unserer Fehler nicht richtig ernst genommen. Die SoKo nannten sie »Osterei« – ich denke, um sich über uns lustig zu machen. Sie hielten uns für Deppen. Aber als sie uns dann nicht kriegten, haben sie sich in den Fall verbissen und begannen immer mehr Geld zu verpulvern: Zielfahnder wurden auf Weltreise geschickt, um in Brasilien oder Ägypten an Hotelbars rumzusitzen. Es gibt Hunderte untergetauchter Rechtsextremer in Deutschland – gegen keinen wurde so ermittelt wie gegen uns.

2014 wurde bekannt, dass Sie in Venezuela leben. Ihr Gefährte Bernd Heidbreder wurde in Mérida verhaftet.

Wir wissen bis heute nicht genau, wie sie Bernd auf die Spur kamen. Aber Tatsache ist, dass er aufgrund des Interpol-Haftbefehls festgenommen wurde und zwei Jahre in Auslieferungshaft saß. Der Oberste Gerichtshof hat das Auslieferungsbegehren dann verworfen, weil die Taten in Venezuela schon verjährt waren.

Es kursiert das Gerücht, dass Heidbreder auch deswegen in Haft kam, weil er sich als überzeugter Anhänger der Chávez-Regierung weigerte, der Polizei Schmiergeld zu zahlen.

Wir sind uns nicht sicher, ob das geholfen hätte, aber es stimmt: Die venezolanischen Polizisten machten ihm direkt nach der Festnahme ein Angebot, das Bernd ausgeschlagen hat. Auch im Gefängnis hat er sich nie Vorteile durch Geld erkauft.

Wie hat er das verarbeitet, dass ihn der chavistische Staat, den er so verteidigte, auf diese Weise behandelte? Immerhin saß Heidbreder nach der Ablehnung des Auslieferungsantrags noch zusätzliche acht Monate im Gefängnis.

Er musste sich ideologisch ganz schön verrenken, würde ich sagen. Vor lauter Furcht, den Chavismus zu kritisieren, hat er lang auf Vermittlungsversuche verzichtet. Als er endlich zugelassen hat, dass man politischen Druck auf die Regierung Maduro ausübt, kam er relativ schnell raus. Denn es war natürlich ein Skandal, dass der venezolanische Staat ihn ohne Haftbefehl weiter festhielt.

Obwohl Sie 2017 Asyl in Venezuela beantragten, bemühten Sie sich weiter um einen Deal?

Ja, aber bei der BAW ging viele Jahre gar nichts mehr. Das Eis brach erst, als eine befreundete Rechtsanwältin, die schon einmal einen Deal eingefädelt hatte und mittlerweile im Ruhestand war, einen neuen Kontakt herstellte. Ihr gelang es, in wenigen Tagen eine Vereinbarung festzuklopfen. Danach vergingen noch mal anderthalb Jahre, bis der umgesetzt wurde. Im Januar 2025 gab es plötzlich eine neue Anklageschrift, die wie zugeschnitten war auf den Deal.

Bernd ist viel zu früh gestorben, aber hat sein Leben konsequent nach seinen Idealen gelebt, und davor ziehe ich den Hut.

Ab 2017 erschienen auch einige Zeitungsartikel über Sie. Und Sie drehten mit dem deutschen Musiker Mal Élevé einen Film – warum?

Sobo Swobodnik, der Vater eines Kindes meiner Schwester, ist Filmemacher. Er ist irgendwann auf mich zugekommen und hat gefragt, ob er über das Musikprojekt, das ich mit Mal Élevé am Laufen hatte, eine Doku machen kann. Dieser Kontakt war entstanden, weil ich Anschluss zur Linken in Deutschland suchte. Weil ich Musik mache, eigentlich eher so Lagerfeuer-Musik, habe ich Mal Élevé einfach irgendwann angeschrieben. Er ist eine wunderbare solidarische Seele und war sofort dabei, kam nach Venezuela und wir haben zusammen Musik aufgenommen.

Eigentlich führen Sie in Venezuela das Leben eines Bauern.

Am Anfang hatte ich einen Kopierladen, eine Kooperative. Aber nach der Festnahme von Bernd musste ich für ein Jahr untertauchen und hatte danach keine Lust mehr, in den Betrieb zurückzugehen. Deshalb hab ich überlegt, was ich stattdessen machen kann, und kam auf Kaffee.

Wie sehen Sie das chavistische Venezuela heute?

Die ersten fünf Jahre war es für uns wirklich großartig. In der Anfangszeit von Chávez haben sich die Menschen überall selbst organisiert, der Staat hat Gelder bereitgestellt, damit Nachbarschaften eigene Projekte entwickeln können: Müllabfuhr, Wasserleitungen, Sportplätze. Aber dann kam irgendwann die Wirtschaftskrise. Mein persönlicher Knackpunkt waren die Stromausfälle. Da gab es stundenlang Blackout bei uns in der Provinz, während man in Caracas die Versorgung aufrechterhielt. Chávez wollte nicht, dass die Hauptstadt die Krise spürt. Für mich war das ein eklatanter Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz. Aber es gab natürlich schon vorher viele Dinge, die im Argen lagen – die Gründung der Staatspartei PSUV zum Beispiel. In den Statuten wurde festgehalten, dass Hugo Chávez der natürliche Vorsitzende der Partei ist. Der Chavismus war in dieser Hinsicht sehr komisch – einerseits war er eine basisdemokratische Bewegung, die über die Hälfte der Bevölkerung erfasste, andererseits lief alles auf eine einzige Person zu. Und dann starb diese Person, und das System fiel in die Hände von jemandem, der komplett überfordert war.

Trotzdem haben Sie erklärt, nach Venezuela zurückkehren zu wollen.

Erst einmal schon. Peter und ich haben beide unsere Liebschaften dort. Und auch die Fincas, die wir nicht aus der Ferne betreuen können. Allerdings möchte ich, solange meine Mutter lebt, mindestens drei Monate im Jahr in Deutschland sein, um mich mit meinem Bruder bei ihr abzuwechseln. Und mit der Zeit werde ich mich wahrscheinlich irgendwann entscheiden müssen. Momentan habe ich noch keine feste Perspektive, aber ich mag die Venezolaner*innen. Auch wenn es schwierig wird, sehen sie die Dinge positiv.

Ihr Freund Bernd Heidbreder ist 2021 an Krebs gestorben – möglicherweise auch wegen der Flucht und der Haft. Sie haben über diesen Verlust den Roman »Aus der Zwischenwelt« geschrieben (Unrast-Verlag). War es das wert?

Es gibt keine richtige Antwort auf diese Frage, ob es sich gelohnt hat. Wir leben unser Leben, wir treffen Entscheidungen und hinterher stehen wir dazu und tragen die Konsequenzen. Natürlich würde ich heute alles mögliche anders machen, aber das weiß ich ja erst jetzt, nachdem ich meine Fehler gemacht und daraus gelernt habe. Ich denke, es geht eher um die Haltung, mit der man antritt. Ordne ich mich unter und werde Teil eines Systems, das ich eigentlich ablehne, oder stelle ich mich dagegen? Bernd ist viel zu früh gestorben, aber hat sein Leben konsequent nach seinen Idealen gelebt, und davor ziehe ich den Hut.