Vergangene Woche veröffentlichte die »Jüdische Allgemeine« einen Artikel[1] mit dem Titel »Wie die Hamas die Opferstatistiken im Gazastreifen fälscht und politisch instrumentalisiert«. Darin wird die Glaubwürdigkeit der vom palästinensischen Gesundheitsministerium gemeldeten Opferzahlen infrage gestellt. Die Zeitung zitiert einen Mitarbeiter, der an der Untersuchung mitgearbeitet hat: »Diese Listen sind so unzuverlässig, dass Medien auf der ganzen Welt sie nicht als verlässlich zitieren sollten.« Laut dem Bericht habe die proisraelische Aktivistengruppe »Honest Reporting« festgestellt, dass »3400 ›vollständig identifizierte‹ Todesfälle aus den Berichten vom August und Oktober 2024 gestrichen« wurden, darunter 1080 Kinder.
Bereits Anfang April hatte der britische »Telegraph« in dieselbe Richtung berichtet[2], wonach die Hamas »heimlich« Tausende Todesfälle aus ihren Opferzahlen für den Gaza-Krieg gestrichen habe. Ein weiterer Aktivist von »Honest Reporting« wird mit ähnlichen Worten zitiert: »Diese ›Todesfälle‹ haben nie stattgefunden. Die Zahlen wurden gefälscht – wieder einmal.« Der Bericht der rechts-konservativen Zeitung aus Großbritannien enthält weitere Vorwürfe: Die Todesursache-Listen seien leicht zu manipulieren, da »jeder mit einem Link zum Google-Formular für das Dokument« Einträge vornehmen könne.
Die Investigativ-Abteilung des britischen Fernsehsenders »Sky News« hat sich die Statistik aus Gaza ebenfalls angesehen und liefert eine besser recherchierte Erklärung[3] für die Streichungen. Das dortige Gesundheitsministerium hat demnach 1852 Menschen von der letzten Version der Opferliste entfernt, nachdem festgestellt wurde, dass nicht alle von ihnen verifizierbar waren. Einige sollen eines natürlichen Todes gestorben sein. In anderen Fällen galten die Menschen als vermisst, unter anderem, weil sie inhaftiert waren.
Zaher Al Wahidi, Leiter des Statistikteams aus Gaza, erklärt gegenüber »Sky News« außerdem: »Wir haben festgestellt, dass viele Menschen eines natürlichen Todes gestorben sind. Vielleicht erlitten sie nahe einer Explosion einen Herzinfarkt oder entwickelten in zerstörten Häusern eine Lungenentzündung.« Diese Fälle würden nicht dem Krieg zugeschrieben – was die Zählung also authentischer macht.
97 Prozent der entfernten Namen stammten dem Bericht zufolge aus dem von »Honest Reporting« erwähnten Online-Formular. Es ist jedoch – anders als dargestellt – für Angehörige gedacht, die in dem Kriegsgebiet keine Behörden oder Krankenhäuser, die Statistiken über Tote führen, erreichen können.
Von den nun entfernten Einträgen sind 41 Prozent Männer zwischen 18 und 60 Jahren. 59 Prozent von ihnen sind Frauen, Kinder und ältere Menschen. Gabriel Epstein vom »Washington Institute for Near East Policy« erklärt in »Sky News«, es gebe deshalb keinen Grund anzunehmen, dass die Fehler auf absichtliche Verfälschung abzielten: »Wenn 90 Prozent der entfernten Einträge Männer im Alter von 18 bis 40 Jahren wären, würde das wie Manipulation aussehen. Aber so ist es nicht.«
Der auf die quantitative Analyse von Krieg und bewaffneten Konflikten spezialisierte Professor Michael Spagat spricht deshalb gegenüber »Sky News« davon, dass die Qualität der aktuellen Liste sogar höher sei. Die Behörden in Gaza hätten auch geschrieben, dass ihre Daten vorläufig veröffentlicht wurden. »Es mag niemand diesen Hinweis mitbekommen haben, aber er wurde auch nicht verheimlicht«, sagt Spagat, der auch an der Non-Profit-Organisation »Every Casualty Counts« beteiligt ist.
Die Glaubwürdigkeit der Opferstatistiken in Gaza sei »politisch brisant, weil ebendiese Zahlen von der Hamas und israelfeindlichen Aktivisten permanent genutzt werden, um den Vorwurf zu befeuern, Israel begehe im Gazastreifen einen Völkermord an den Palästinensern«, schrieb die »Jüdische Allgemeine«. Der Bericht von »Sky News« zeigt indes, wie stattdessen die deutsche Zeitung die Zahlen instrumentalisiert.
Nach der Überprüfung durch das Gesundheitsministerium kann indes als plausibel gelten, dass in Gaza mindestens 50 609 Menschen getötet wurden. Eine hohe Zahl an weiteren Opfern wird zudem unter den Trümmern des von Israel in Schutt und Asche gelegten Gazastreifens vermutet.