Stellen Sie sich vor, Köln, eine Stadt, in der rund eine Million Menschen leben, müsste auf einmal doppelt so viele beherbergen. Menschen, die aus allen Teilen Deutschlands in Köln Zuflucht suchen. Stellen Sie sich vor, wie diese so lebendige Stadt aussehen würde, unter welchen Belastungen und Herausforderungen sie ächzen würde.
Realität geworden ist dieser plötzliche Bevölkerungsanstieg in Port Sudan. Die Stadt zählte Anfang des Jahres 2023 etwa 800 000 Einwohner. Heute leben dort zwei Millionen Menschen. Diese schwer greifbaren Zahlen stammen aus dem bewaffneten Konflikt im Sudan[1] zwischen der Armee und der lange Zeit verbündeten paramilitärischen Miliz Rapid Support Forces. Seit dem 15. April 2023 halten die Kämpfe zwischen beiden Konfliktparteien [2]an. Inzwischen sind mehr als 30 Millionen Menschen auf humanitäre Hilfe angewiesen, zwölf Millionen wurden gewaltsam vertriebenen, kurzum: Es ist die derzeit größte humanitäre und Vertreibungskrise[3] weltweit.
Diese Zahlen stehen im krassen Widerspruch zu der Aufmerksamkeit, die wir ihnen zukommen lassen. Ich könnte hier genauso gut über andere Länder schreiben. Ein kleinerer Teil schaut nach dem verheerenden Erdbeben aktuell wieder auf Myanmar[4]. Für die Situation in der Demokratischen Republik Kongo, Mali und in viele andere Länder hat sich hingegen der Sprachgebrauch »vergessene Krise« etabliert – ein treffender und zugleich schrecklicher Begriff, denn die Menschen vor Ort vergessen diese Krise nicht.
Fehlende internationale Aufmerksamkeit übersetzt sich in fehlende finanzielle Mittel: Die Generaldirektion Europäischer Katastrophenschutz und Humanitäre Hilfe der Europäischen Kommission geht wie im Jahr 2024 auch für 2025 davon aus, dass weltweit mehr als 300 Millionen Menschen humanitäre Hilfe und Schutz[5] benötigen. Die innerhalb der Vereinten Nationen erstellten Hilfspläne wiesen dabei für 2024 eine durchschnittliche Finanzierungsquote von weniger als 50 Prozent auf. Vor allem aber wird die Lücke zwischen den ermittelten Bedarfen und den vorhandenen Finanzierungen seit Jahren größer. In diesem Sinne wird sich auch erweisen müssen, ob die Formulierung im neuen schwarz-roten Koalitionsvertrag, man werde »zukünftig eine auskömmliche Finanzierung der humanitären Hilfe und Krisenprävention sicherstellen« mehr ist als ein Lippenbekenntnis.
Acht Mitarbeitende unserer Schwesterorganisation, dem Sudanesischen Roten Halbmond, sind im vergangenen Jahr im Einsatz getötet worden. Auch hier steht der Konflikt im Sudan beispielhaft für die sich global abzeichnende Tendenz, dass bewaffnete Konflikte ohne Rücksicht auf die Zivilbevölkerung geführt werden. Zentrale Errungenschaften des Humanitären Völkerrechts werden dabei zunehmend ausgehöhlt, mit weitreichenden Konsequenzen: Wenn es keine Sicherheit und keinen Zugang für Helfer und Helferinnen gibt, dann ist die Versorgung von Menschen kaum möglich. Teilweise führt das hohe Sicherheitsrisiko zum Rückzug von Hilfsorganisationen aus den gefährlichsten Orten.
Das Ganze setzt eine fatale Logik in Gang. Menschen in größter existenzieller Not erhalten so noch weniger oder gar keine Hilfe. Wo keine Hilfe ankommt und Helfende nicht geschützt sind, gibt es aber auch keine Zeugen mehr. Die Erfahrung lehrt uns: Häufig führt dies zu noch mehr Grausamkeit und Gewalt.