nd-aktuell.de / 22.04.2025 / Berlin / Seite 1

Berlin: Die vergessene »Aktion Avus«

Die »Kampfgruppe Osthafen« leistete in den letzten Kriegstagen Großes

Felix Schlosser
In der Rochowstraße im Ortsteil Friedrichshain erinnert ein Stolperstein an Paul Schiller.
In der Rochowstraße im Ortsteil Friedrichshain erinnert ein Stolperstein an Paul Schiller.

Ungelöste Kriminalfälle, auch historische, üben große Faszination aus. In der Sendung »Mord und Totschlag – Kriminalität unterm Hakenkreuz« von »Terra X« im ZDF aus dem Jahr 2024 etwa wird von einem Anschlag auf drei SS-Männer in Grunewald auf der Stadtautobahn Avus berichtet. Die Nazis saßen in einer voll beladenen Limousine, als sie laut Ermittlern vermutlich in eine fingierte Straßenkontrolle gerieten. Bei dieser wurden sie ohne jede Gegenwehr durch gezielte Kopfschüsse getötet. »Das Verbrechen trifft diesmal Heinrich Himmlers Vorzeigegarde und damit ins Mark des nationalsozialistischen Polizeistaates«, heißt es dazu vom Sprecher der Dokumentation. Sogar in internationalen Medien wird über den Anschlag berichtet. Die Kriminalpolizei setzt eine der bis dahin höchsten Prämien von 100 000 Reichsmark aus. Dann ein weiterer Kommentar des Sprechers: »Dennoch wird der Mord an den SS-Männern nie aufgeklärt.«

Vielleicht hätte sich der Anschlag aber spätestens zu DDR-Zeiten aufklären lassen, hätte man das Buch »Kampftage in Berlin« aus dem Jahr 1975 zurate gezogen. In diesem wird in einem Kapitel, dass den vielversprechenden Namen »Aktion Avus« trägt, minutiös und detailliert über den Angriff geschrieben. Der Autor Heinz Müller ordnet diesen Hans Malecki, Otto Leuleck, Paul Schiller und sich selbst zu. Die vier Antifaschisten waren Arbeiter und Teil der Widerstandsgruppe »Kampfgruppe Osthafen«, in der sich vor allem Mitglieder der KPD und SPD sowie Parteilose organisierten.

Müller schreibt, die Gruppe habe nach einer Möglichkeit gesucht, eine Aktion mit Ausstrahlungskraft durchzuführen. Diese sollte sowohl andere Antifaschist*innen motivieren, als auch die Nazis empfindlich treffen und für Unsicherheit und Verwirrung sorgen. Der Plan war, »das faschistische Objekt am schwarzen Grund« in Dahlem zu sprengen. Zu diesem Zweck wollte die Gruppe versuchen, den Wagen eines »Nazibonzen«, wie es im Buch heißt, zu erbeuten. Wie auch bei anderen Aktionen der Gruppe entschloss man sich, in Wehrmachtsuniformen zu agieren.

Nach der Kontrolle mehrerer Wagen kam schließlich das Auto mit den SS-Leuten angefahren. Müller soll dann das Feuer auf den Fahrer und die anderen Männer eröffnet haben. Den Wagen wie geplant zu erbeuten, scheiterte daran, dass ein anderer Pkw mit mehreren Offizieren anhielt und die Gruppe die Flucht durch das Waldgelände antreten muss. Da es zu gefährlich gewesen sei, nach dem Anschlag die S-Bahn zu benutzen, hätten sich die Antifaschisten zunächst per Omnibus und im Anschluss per U-Bahn zur Frankfurter Allee begeben. Von dort aus sollen sie sich in die Simon-Dach-Straße 32 zurückgezogen haben, um über das Erlebte zu sprechen.

Ob die »Aktion Avus« sich so zugetragen hat, wie Müller es in seinem Buch beschreibt, bleibt offen. »Kampftage in Berlin« ist ein Roman. Nicht selten neigen Schriften über Widerstandskämpfer, die in der DDR verfasst wurden, zu einer Legenden-, Mythen- und Märtyrerbildung. Dass die »Kampfgruppe Osthafen[1]« aber existierte und Widerstand leistete, steht außer Frage. Davon zeugen nicht nur die historisch detaillierten Beschreibungen in dem Werk Müllers, sondern auch Sekundärquellen in anderen Büchern.

Doch »Kampftage in Berlin« war beim ZDF nicht Teil der Recherche. Auf eine nd-Anfrage antwortet »Terra X«-Redakteur Peter Hartl: »Die Darstellung in dem genannten Buch war uns bei der Arbeit zum Film nicht bekannt.« Die Recherchen hätten sich auf historische Akten und die damaligen Ermittlungen gestützt.

Die »Kampfgruppe Osthafen« leistete in den letzten Tagen kurz vor der Befreiung Beeindruckendes: So sollen Teile der Gruppe auf einem S-Bahn-Gelände unweit des Rudolfplatzes ein Munitionsdepot der Wehrmacht gesprengt haben. Außerdem sollen sie die Zerstörung von Lebensmittelmagazinen am Osthafen verhindert haben. Im Rahmen des sogenannten »Nero-Befehls« zerstörten die Nazis kurz vor der Befreiung großflächig Infrastruktur. Diese hätte ansonsten für den Gegner von Nutzen sein können. Auf der Stralauer Allee soll die Gruppe Wehrmachtssoldaten zum Desertieren überredet haben.

Aber nicht alle Aktionen der Gruppe verliefen reibungslos. »Genosse Schiller lag leblos auf der Couch. Wir fühlten seinen Puls und bemühten uns, seinen Herzschlag zu hören. Vergeblich. … In diesen Minuten verspürte ich die Schwere der Verantwortung, die auf uns lastete, besonders deutlich. Ich blickte in die Gesichter der beiden Genossen und dachte: Zwölf Jahre haben sie in Not und Gefahr ihrer Partei die Treue in dem Bewusstsein gehalten, dass der Tag der Befreiung kommen wird. Wie viel Hoffnung haben die Genossen darauf gesetzt, an diesem Tag mit dabei sein zu können«, beschreibt Müller den Tod Paul Schillers. Er starb am 23. April 1945 in einem Zigarrenladen: Er wurde bei Kampfhandlungen mit den Nazis tödlich verletzt.

»Insbesondere Berichte über militanten Widerstand gegen das Naziregime sind extrem selten.«

Timo Steinke
Wem gehört der Laskerkiez?

Bis vor einigen Jahren waren die Widerstandsgruppe und der Name Schillers der Öffentlichkeit so gut wie nicht bekannt. Erst durch die Stadtteilgruppen »Wir bleiben alle Friedrichshain« und »Wem gehört der Laskerkiez[2]?«, die im Rahmen eines Stolpersteinrundgangs auf den Stein von Paul Schiller aufmerksam wurden, begannen lokale Antifaschist*innen sich mehr mit den Hintergründen zu beschäftigen.

Auch dieses Jahr werden die Stadtteilinitiativen an Schiller erinnern. »Gerne hätten wir mehr Belege und Quellen zu den Aktionen der Gruppe, die sich aber eigentlich nur durch Archive und tiefergehende Recherchen organisieren lassen«, erzählt Timo Steinke von der Nachbarschaftsinitiative »Wem gehört der Laskerkiez?« im Gespräch mit »nd«. »Insbesondere Berichte über militanten Widerstand gegen das Naziregime sind extrem selten, und gerade die Vielzahl an Aktionen, die der Gruppe zugeordnet werden, sind für uns eine Motivation, Jahr für Jahr an unsere ehemaligen Nachbar*innen zu erinnern.«

Auf lange Sicht wolle man sich einerseits für mehr Nachforschungen einsetzen und andererseits im Bezirk anregen, den Widerstand der »Kampfgruppe Osthafen« durch eine Gedenktafel zu ehren. Das Gedenken an Paul Schiller am 23. April um 18 Uhr am Rudolfplatz ist ein Schritt in diese Richtung.

Links:

  1. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1190406.antifaschismus-stolperstein-fuer-anarchosyndikalisten-walter-schwalba-verlegt.html
  2. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1187441.nachbarschaftsinitiative-bauplaene-am-ostkreuz-berlin-die-sollen-uns-aus-der-sonne-gehen.html