Der am Ostersonntag in Oldenburg von einem Polizisten getötete 21-Jährige[1] wurde durch mindestens drei Schüsse von hinten getroffen. Das teilte die Staatsanwaltschaft am Dienstag zum vorläufigen Obduktionsergebnis mit. Demnach fanden sich an dem Leichnam des Schwarzen jungen Mannes Schussverletzungen an der Hüfte, am Oberkörper und am Kopf. Ein viertes Projektil soll ihn am Oberschenkel gestreift haben.
Der Oldenburger hieß nach Angaben einer Solidaritätsgruppe Lorenz. Laut Polizei war er um 2.40 Uhr nach einer Auseinandersetzung vor einer Diskothek, wo er zwei Sicherheitsdienst-Mitarbeiter sowie zwei Personen mit einem Reizstoff leicht verletzt haben soll, geflüchtet. Mehrere Personen hätten eine zunächst begonnene Verfolgung abgebrochen, da der Mann mit einem Messer gedroht haben soll.
Als ihn Polizist*innen ansprachen, sei Lorenz erneut geflohen. In einer Nebenstraße habe ihn eine weitere Streifenwagenbesatzung gestellt. Den Beamt*innen habe er sich »bedrohlich« genähert und erneut Reizgas versprüht. Ein 27-jähriger Polizist habe daraufhin »von seiner Schusswaffe Gebrauch« gemacht. Das Opfer starb im Krankenhaus.
Einiges an dieser Darstellung ist korrekturbedürftig. Ein Messer, von dem in der ersten Pressemitteilung der Polizei die Rede war, wurde nicht gefunden – es gebe laut Staatsanwalt auch »keinen Anhaltspunkt darauf, dass er den Polizeibeamten mit einem Messer gedroht hat«. Eine Zeugin sagte der »Taz«, dass der Mann auf der Flucht von den Beamt*innen in die besagte Straße getrieben worden sei; dann seien auch schon die Schüsse gefallen. Auch dass der Polizist von hinten schoss, lässt vermuten, dass die Situation nicht »bedrohlich« war.
Wie bei derartigen Fällen üblich, hat die Oldenburger Staatsanwaltschaft ein Todesermittlungsverfahren gegen den vom Dienst suspendierten polizeilichen Schützen eingeleitet. Die Schussabgabe wäre nur verhältnismäßig, wenn der 27-Jährige glaubhaft machen kann, dass er in Notwehr handelte. Wenn daran Zweifel bestehen, kann die Staatsanwaltschaft Anklage erheben.
Mit den Ermittlungen ist »aus Neutralitätsgründen« die Polizeidirektion Delmenhorst beauftragt – die 2021 selbst in der Schusslinie stand, nachdem dort der 19-jährige Qosay Sadam Khalaf im Gewahrsam kollabiert und schließlich im Krankenhaus gestorben war. Zeugenaussagen wichen damals vom Polizeibericht deutlich ab. Trotzdem wurden die Ermittlungen gegen die Beamt*innen eingestellt.
»Mittlerweile kennen wir die polizeilichen Abläufe zum Framing nach so einem Todeseinsatz auswendig, da sie dem immer gleichen Drehbuch folgen«, erklärt Michèle Winkler vom Kölner Grundrechtekomitee. Die Organisation hat unter anderem den Prozess gegen vier Polizist*innen verfolgt, die am tödlichen Einsatz gegen den jungen senegalesischen Geflüchteten Mouhamed Dramé in Dortmund beteiligt waren. »Fraglich ist nur, warum es immer noch Medien gibt, die die polizeiliche Erstversion ungeprüft übernehmen«, sagt Winkler zu den Todesschüssen in Oldenburg.
Im rot-grün regierten Niedersachsen sprach Innenministerin Daniela Behrens (SPD) nach Vorliegen der Obduktionsergebnisse am Dienstag von »verheerenden Vorwürfen«, warnte aber auch vor einer Vorverurteilung der Polizist*innen. Der innenpolitische Grünen-Sprecher im niedersächsischen Landtag, Michael Lühmann, nannte den Obduktionsbericht »schockierend«, rief aber dazu auf, vor einer politischen Bewertung die Ermittlungen abzuwarten.
Der Kreisvorsitzende der CDU Oldenburg-Stadt bezeichnet »pauschale Vorwürfe von institutionellem Rassismus und Polizeigewalt in einem noch völlig offenen Ermittlungsverfahren« indes als »unseriös« und »gefährlich«. Der innenpolitische Sprecher der AfD-Fraktion im Landtag fordert, sich bei tödlichen Schüssen »grundsätzlich« hinter Polizist*innen zu stellen. Niedersachsens Sektion der Deutschen Polizeigewerkschaft (DpolG) nutzt die Tat, um auf Taser auch für den Streifendienst zu drängen – allerdings dürfen diese nicht gegen Fliehende eingesetzt werden.
In der Stadt hat sich unter dem Namen »Gerechtigkeit für Lorenz« eine spontane Initiative gegründet, die für Freitagabend ein Gedenken am Tatort organisiert. »Wir stehen geschlossen gegen Rassismus, der auch bei der Polizei strukturell ist«, heißt es in dem Aufruf. Die Polizei rechnet mit deutlich mehr als 1000 Teilnehmenden. Eine erste Spendenkampagne von Unterstützer*innen konnte seit Dienstag rund 19 000 Euro für die Angehörigen von Lorenz sammeln.