Noch etwas mehr als drei Monate Schonzeit haben Pendlerinnen und Pendler aus Falkensee, Nauen oder Wittenberge. Doch ab 1. August wird die Bahnstrecke Berlin–Hamburg für neun Monate komplett gesperrt[1] sein. ICE werden wie bei der viermonatigen Sperrung im vergangenen Jahr über Uelzen und Stendal umgeleitet – rund 45 Minuten länger werden die täglich rund 30 000 Fernverkehrsfahrgäste dann für die Fahrt brauchen. Etwa die Hälfte mehr Zeit als aktuell.
Ungleich härter trifft es die täglich etwa 20 000 Nahverkehrs-Fahrgäste in den Berliner und Brandenburger Abschnitten. Sie müssen mit Ersatzbussen vorliebnehmen und zusätzliche Umstiege in Kauf nehmen – denn direkt nach Berlin werden die Busse wegen der verstopften Straßen nicht fahren. In der Regel in Wustermark wird der Umstieg in Regionalzüge[2] in die Hauptstadt stattfinden.
Aus Falkensee oder Nauen verdoppeln sich somit die Fahrzeiten – wenn der Anschluss klappt. Statt bestenfalls etwas unter einer Stunde mit dem Eurocity oder rund 90 Minuten mit dem RE8 muss man aus Wittenberge für die Fahrt zum Berliner Hauptbahnhof dann mindestens fast drei Stunden einplanen.
Der Aufwand für den Ersatzverkehr ist enorm. Eine Flotte aus 173 lila Bussen – die Deutsche Bahn nennt die Farbe Verkehrspurpur – wird entlang der kompletten Strecke auf 26 Linien täglich bis zu 86 000 Kilometer zurücklegen.
In der Zeit bis zum 30. April 2026 soll die 278 Kilometer lange Strecke zwischen Berlin und Hamburg komplett auf Vordermann gebracht werden. 180 Kilometer Gleis und 200 Weichen sollen erneuert, 28 Stationen modernisiert werden. Es ist die bisher längste Strecke, die die Generalsanierung, so der Name des neuen Instandsetzungskonzepts der Deutschen Bahn, durchläuft. Premiere war im vergangenen Jahr auf der 70 Kilometer langen Riedbahn zwischen Frankfurt am Main und Mannheim. Dort sind laut DB rund 1,5 Milliarden Euro investiert worden, um die Strecke von der Zustandsnote 3,7 auf 2,19 zu bringen. Ursprünglich waren Baukosten von rund 500 Millionen Euro prognostiziert worden.
Die Grundinstandsetzung der Strecke zwischen Berlin und Hamburg ist bitter nötig. Derzeit taxiert Netzbetreiber DB Infrago den Zustand mit der Schulnote 3,7. Das ist bemerkenswert schlecht – vor allem vor dem Hintergrund, dass bereits 2024 rund 74 Kilometer Gleise und 100 Weichen getauscht worden sind.
»Nach den ersten vorläufigen Prognosen gehen wir davon aus, dass die Zustandsnote für die Strecke Hamburg–Berlin nach Abschluss der Generalsanierung bei 2,3 liegen wird«, erklärt eine Sprecherin der Deutschen Bahn auf Anfrage von »nd«. »Änderungen der Prognose können sich noch ergeben«, heißt es weiter.
Das wirft ein Schlaglicht auf den immer weiter zusammengestrichenen Umfang der geplanten Arbeiten. Das Fanblatt »Drehscheibe«[3] berichtet aktuell, dass nur noch der Bau dreier neuer sogenannter Überleitstellen geplant ist. Dabei handelt es sich um Weichenverbindungen, die den Betrieb flexibler machen. Schnellere Züge können langsamere dort beispielsweise überholen, ohne sie auszubremsen. Auch werden die Einschränkungen geringer, wenn mal ein Zug liegenbleibt oder ein anderes Hindernis ein Gleis blockiert.
Laut »Drehscheibe« hätten ursprünglich 20 dieser Überleitstellen neu- oder ausgebaut werden sollen, dazu hätten noch Überholgleise für lange Güterzüge entstehen sollen. Dabei war das ursprüngliche Versprechen der Generalsanierung, dass nicht nur die Bestandsstrecke saniert wird, sondern auch Verbesserungen an der Infrastruktur umgesetzt werden, die Leistungsfähigkeit und Zuverlässigkeit erhöhen.
Deutlich eingedampft worden ist auch der Einbau der zeitgemäßen europäischen Signaltechnik ETCS, die ebenfalls die Leistungsfähigkeit erhöhen würde. Nur noch für zusammen 67 Kilometer ist die Ausrüstung mit ETCS vorgesehen, einerseits zwischen Berlin-Spandau und Nauen, andererseits zwischen Hamburg-Rothenburgsort und Büchen.
»Das, was man bezwecken wollte, wird nicht kommen. Es ist einfach zu teuer geworden«, sagt Thorsten Müller über die Generalsanierung Berlin–Hamburg Ende März bei der Fachkonferenz Megatrends im Verkehr in Frankfurt am Main. »Offensichtlich kriegt man bei Hamburg–Berlin nur noch 20 Prozent davon hin, was bei der Riedbahn umgesetzt worden ist«, so der Präsident des Zweckverbands Schienenpersonennahverkehr Rheinland-Pfalz Nord. Dort seien die vom Netzbeirat Ende 2022 formulierten Ziele für Hochleistungskorridore komplett umgesetzt worden.
»Offensichtlich kriegt man bei Hamburg–Berlin nur noch 20 Prozent davon hin, was bei der Riedbahn umgesetzt worden ist.«
Thosten Müller
Präsident Zweckverband SPNV Nord
Ohne die zuvor eingeplanten Überleitstellen und die neue Signaltechnik drohen laut Müller erhebliche Probleme beim Bahnbetrieb. Als Fallbeispiel nennt er einen Felssturz nahe Rüdesheim an der rechten Rheinstrecke. Wegen fehlender Signale stand auf 15 Kilometer Strecke nur ein Gleis zur Verfügung. »Das war der Herzinfarkt. Statt vielleicht 50 Zügen pro Stunde kamen nur noch vier durch.«
Derweil galoppieren die Kosten für die Sanierung der Strecke Berlin–Hamburg. Im Frühjahr 2024 lag die Schätzung noch bei 1,7 Milliarden Euro, daraus wurden im Laufe des Jahres 2,2 Milliarden Euro mit Risikopuffer. Inzwischen gilt diese Summe als der Mindestpreis. Allein von 2023 auf 2024 sind die Kosten für die Erneuerung der Infrastruktur[4] im Netz der Deutschen Bahn laut Zustandsbericht um 20 Prozent gestiegen, seit 2019 haben sie sich Beobachtern zufolge sogar verdoppelt.
Natürlich gebe man vorher immer eine Kostenschätzung, bevor es auch nur ein einziges Angebot gibt, sagte DB-Infrago-Chef Philipp Nagl vor einigen Tagen bei der Jahres-Pressekonferenz zum Netzzustand zur Sanierung der Strecke Berlin–Hamburg. »Dann schreiben wir das aus, und dann sehen wir, was sozusagen die Sachen wirklich kosten, und was auch leistbar ist. Und darauf designen wir dann sozusagen das finale Produkt, was dann dort gemacht wird.«
Das Eindampfen der Pläne zur Ausrüstung mit der Signaltechnik ETCS beruhe auf einem »ganz klaren Learning aus der Riedbahn«: »Es dauert ewig, bis es in den Betrieb geht.« Bis heute ist das ETCS, das zusätzlich zum klassischen PZB-System installiert worden ist, nicht vollständig in Betrieb, obwohl die Strecke seit über vier Monaten wieder befahren wird.
»Wir können uns keine Doppelausrüstung in diesem großen Umfang leisten. Das ist einfach zu teuer und zu aufwendig«, sagt Nagl. Man habe sich daher »dafür entschieden, dass wir die Stellwerke zwar schon weitgehend erneuern, aber die alte Signaltechnik noch drinnen lassen«. In fünf Jahren werde dann die restliche Strecke auf ETCS umgestellt. »Das ist in Summe billiger.«
Damit kündigt Philipp Nagl schon die nächste größere Sperrung der Strecke an, bevor die anstehende Sanierung begonnen hat. Bereits 2021 war die Eisenbahnlinie für drei Monate unterbrochen, weil großflächig von Betonkrebs befallene Schwellen ausgetauscht werden mussten.