nd-aktuell.de / 25.04.2025 / Politik / Seite 1

Darf Armut vor Strafe schützen?

Nicole Bögelein über den Umgang mit Ladendiebstahl, Fahren ohne Fahrschein und die Frage, was an Schwedens Umgang mit Geldstrafen interessant ist

Interview: Ines Wallrodt
Ungleichheit vor Gericht – Darf Armut vor Strafe schützen?

Bei Amtsgerichten stehen regelmäßig Menschen wegen geringfügiger Delikte vor Gericht. Wen betrifft das?

Das sind in der Regel Menschen, die kaum Geld haben, was man auch an den Tagessatzhöhen ablesen kann, die Gerichte bei diesen Delikten verhängen. In der Regel bleiben sie deutlich unter 50 Euro, meistens sogar unter 25 Euro. Die Tagessätze richten sich nach der Höhe des Nettoeinkommens einer Person.

Wir sprechen bei Ladendiebstahl oder auch bei Fahren ohne Fahrschein von klassischen Armutsdelikten[1]. Denn diese Delikte zeichnet aus, dass sie kein Geld erfordern und in der Regel von Menschen begangen werden, die kein Geld haben. Im Gegensatz zu sogenannten Reichtumsdelikten wie zum Beispiel Betrug oder Steuerhinterziehung, für die man ein gewisses Geld oder eine berufliche Stellung braucht, um überhaupt entsprechend handeln zu können.

In einigen Bundesländern darf man Menschen, die man »auf frischer Tat ertappt hat«, direkt in sogenannte Hauptverhandlungshaft nehmen. Die kann bis zu einer Woche dauern. Damit will man absichern, dass die Person zur Verhandlung erscheint. Aber tatsächlich zeigt es eine soziale Schieflage: Denn Ihnen und mir kann das kaum passieren.

Warum?

Nehmen wir an, bei Douglas, Rewe oder Penny wird etwas geklaut. Bei uns würden die Personalien festgestellt und dann würden wir nach Monaten, wenn wir keine Vorstrafen haben, einen Einstellungsbescheid bekommen, vielleicht mit einer geringen Geldstrafe, weil von einer niedrigen Schuld ausgegangen wird. Wenn aber eine Person keinen festen Wohnsitz und/oder keine deutsche Staatsangehörigkeit hat und/oder Drogen konsumiert, dann sind das Gründe, die dazu führen können, dass sie bis zur Verhandlung in Haft kommen. Auch wenn das Verfahren vom Gericht am Ende eingestellt wird. Wir hätten nach Monaten einen Brief bekommen, diese Menschen können für die gleichen Delikte im Gefängnis landen.[2]

Wir wissen aus der Forschung, dass Menschen in Haft einen Inhaftierungsschock durchleben, zum Teil niemandem Bescheid geben konnten. In einem Verfahren kam eine junge Romni, die bei einem versuchten Diebstahl erwischt worden war, für zwei Tage in Haft. Die Familie samt ihrem Kleinkind wusste nicht, wo sie war. Sie selbst konnte sich wegen Sprachbarrieren und anderer Probleme nicht verständigen. Irgendwann kam dann eine Anwältin und half. Aber zunächst herrschte eine große Unsicherheit. Es kommt auch vor, dass psychisch und chronisch kranke Menschen in diesen Tagen keine medizinische Behandlung und Medikation bekommen. Wir müssen uns klarmachen: Wir reden hier über Delikte, bei denen der Schaden in aller Regel bei unter zehn Euro liegt, und bei denen kann – unabhängig von dieser Haft vor der Hauptverhandlung – am Ende sogar noch einmal Haft stehen, nämlich eine Ersatzfreiheitsstrafe.

Wann kommt es dazu?

Voraussetzung für die Ersatzfreiheitsstrafe ist die Zahlungsunfähigkeit. Sie wird zwangsweise verfügt, nachdem eine Gerichtsvollzieherin/ein Gerichtsvollzieher überprüft hat, ob da wirklich nichts zu finden ist. Das heißt, es gelangen nur Menschen, die arm sind, wegen einer nicht bezahlten Geldstrafe in Haft. Bei den anderen würde gepfändet. Aus meiner Sicht ist das nicht vertretbar. Mit der Ersatzfreiheitsstrafe bestraft die Justiz Menschen ohne Geld härter.

Was bedeutet so eine Ersatzfreiheitsstrafe für die Betroffenen?

Ich bin im Zuge meiner Forschung viel in Gefängnissen unterwegs. In der Regel sind das Menschen mit beschädigter Psyche und beschädigter Biografie in einem desolaten Lebenszustand. Das vorherrschende Gefühl ist Resignation. Viele sind schon das zweite oder dritte Mal da. Und sie wissen, dass sie keine guten Zukunftsaussichten für ihr Leben haben. Psychische Erkrankungen bei den Menschen in Ersatzfreiheitsstrafen sind auch im Vergleich zu anderen Strafgefangenen überproportional hoch. Der Anteil derjenigen, die einen Suizid versuchen oder die suizidal eingestuft werden, liegt bei ungefähr zehn Prozent.

Es gibt auch eine kleine Gruppe, die die Haft als Schutzraum begreift, vor allem Menschen, die obdachlos sind. Allein die Tatsache, in einem Bett zu schlafen, ohne zu fürchten, dass man Gewalt erlebt – das verweist auch darauf, wie krass das Leben draußen war.

Könnte der Haftantritt nicht auch dazu führen, dass sie Angebote bekommen, die aus dieser desolaten Situation herausführen?

Nach einem mehrjährigen Projekt zum sozialen Klima im Gefängnis ist die Antwort leider eindeutig: Resozialisierung wird im deutschen Vollzug nicht umgesetzt. Das liegt an fehlenden finanziellen Ressourcen, es fehlt an Zeit, an Personal. Es liegt aber auch an faktischer Unmöglichkeit: Denn was wäre wünschenswert für Menschen in Ersatzfreiheitsstrafen? Eine Wohnung, ein Therapieplatz, Schuldner*innenberatung? Vieles davon ist ja schon für Menschen ohne Strafe ein Problem.

Was stimmt, ist, dass die Menschen in der JVA zum Teil körperlich wieder hochgepäppelt werden, die machen mal einen Entzug durch, sind wieder ansprechbar. Aber das ist zum einen kein nachhaltiger Erfolg, weil sie in genau das gleiche Leben wie vorher rausgehen. Und zum anderen ist es nicht die Aufgabe vom Vollzug. Eine Kollegin sagt immer, wenn das soziale Netz so große Löcher hat, dass es erst im Gefängnis greift, dann läuft da etwas sehr, sehr schief.

Welchen Sinn hat es überhaupt, armen und oft psychisch belasteten Menschen noch eine Geldstrafe aufzubrummen? Geht es um das allgemeine Rechtsempfinden, nach dem Motto: Strafe muss sein? Oder glaubt man, dass sich sonst niemand mehr an Regeln hält?

Die Strafe soll ein bisschen von allem sein. Die allgemeine Aufgabe des Strafrechts ist es laut Bundesverfassungsgericht, die elementaren Werte des Gemeinschaftslebens zu schützen. Die Strafe soll einen Schuldausgleich schaffen, sie soll Prävention und eine Resozialisierung des Täters/der Täterin bewirken. Und sie soll Sühne und Vergeltung für begangenes Unrecht sein.

Wenn jemand, der schon durch seine Tat zeigt, dass er kein Geld hat, mit einer Geldstrafe belegt wird, sind diese Ziele natürlich fragwürdig. Die eigentliche Idee von einer Geldstrafe ist der sogenannte Konsumverzicht. Die Höhe der Tagessätze soll eine Opfergleichheit herstellen. Der Gedanke: Jeder soll das abgeben, was ihm gleichviel wehtut. Deshalb können die Tagessätze zwischen einem Euro – wenn jemand nur 30 Euro im Monat zur Verfügung hat – und bis zu 30 000 Euro variieren, was ganz selten mal in einem Verfahren zum Beispiel gegen Fußballer verhängt wird.

Klingt gerecht.

Ist zumindest besser, als Arme gleich ins Gefängnis zu schicken. Trotzdem wird diese Opfergleichheit schwer erreicht. Denn für jemanden mit einem normalen Einkommen, der sich im Jahr ein oder zwei Urlaube leisten kann, sind 3000 Euro Strafe etwas anderes als für jemanden, der ohnehin jeden Monat knapsen und dann 250 Euro zahlen muss. Wohlfahrtsverbände fordern, dass man für Menschen, die Bürger*innengeld beziehen, maximal zwei bis drei Euro Tagessatz verhängt. In der Praxis liegt er bei bis zu 15 Euro. Das ist viel, wenn man davon ausgeht, dass die nichts übrig haben, weil die Transferleistungen sehr genau berechnet sind. Und Konsumverzicht ist hier auch Quatsch, da Konsum unter diesen Bedingungen ohnehin nur bedeutet, das Notwendigste zu kaufen.

Sollte man Strafe aussetzen, weil jemand zu arm ist?

Das ist eine politisch umkämpfte Frage. Die eine Sichtweise ist: Jede Strafe muss vollstreckt werden, das sei ein Grundpfeiler unseres Rechtsstaates. Denn sonst würde Armut ja vor Strafe schützen und das darf nicht sein. Außerdem ist die Sorge, wenn die Ersatzfreiheitsstrafe »fällt«, denken die Leute, sie hätten einen Freischein.

In Schweden macht man es anders. Und ich habe noch nicht gehört, dass sich dort niemand mehr an Recht und Gesetz hält. Da ist es dem Gesetzesverständnis nach nicht der Sinn jeder Geldstrafe, dass sie bezahlt wird. Ungefähr 40 Prozent zahlen tatsächlich nicht. Es ist aber sichergestellt, dass nur Menschen, die wirklich nicht können, es nicht tun. Bei den anderen sorgt man schon dafür. Diese Mittel hätte unser Staat auch.

Interessant ist es, dass in Schweden Menschen ohne Geld für manche Delikte daher tatsächlich nicht bestraft werden können. Dort gibt es für bestimmte Delikte immer nur Geldstrafen – wer kein Geld hat, kann diese nicht bezahlen. Bei uns hingegen ist das System sozusagen eskalierend. Ein- oder zweimal wird eingestellt, dann kommt eine kleine Geldstrafe, dann eine höhere, dann Bewährung und dann Freiheitsstrafe. Menschen in Armut hätten also keinen »Freifahrtschein«.

Sehen Sie weitere Ansätze, den Umgang mit Bagatelldelikten zu ändern?

Ich meine, dass wir alles, was nicht notwendigerweise vom Strafrecht bearbeitet werden muss, aus dem Bereich des Strafrechts entfernen müssten. Das Fahren ohne Fahrschein muss dringend entkriminalisiert werden. In vielen Ländern ist das überhaupt keine Straftat. Die Justiz hätte dann auch mehr Zeit, sich anderen Dingen zu widmen. Auch für den Bereich Ladendiebstahl oder kleinere Diebstähle wird das in Fachkreisen[3] so diskutiert.

Würde das gar keine Reaktion bedeuten?

Gar nichts folgt sowieso nicht. Für Fahren ohne Fahrschein werden immer 60 Euro fällig. Viele Menschen verstehen das sowieso als die Strafe. Aber das ist eine privatrechtliche Angelegenheit. Beim Ladendiebstahl bekommt man in der Regel ein Hausverbot und man muss oft noch eine Bearbeitungsgebühr bezahlen. Für den Laden oder die Verkehrsbetriebe ist es egal, ob noch eine Strafe folgt oder nicht. Der Staat beschäftigt sich auch nicht damit, wenn einer bei Mediamarkt den Fernseher nicht bezahlt, also die Rechnung schuldig bleibt. Beim Falschparken gibt es ein Ticket und fertig.

Die Ampel-Regierung wollte Bagatelldelikte in den Bereich des Ordnungswidrigkeitenrechts verschieben. Ich wäre stattdessen dafür, sie komplett herauszunehmen, weil es diese Bestrafungen zwischen den Zivilpartnern sowieso gibt und der Staat nicht noch einmal eingreifen muss. Ob mit der neuen Bundesregierung da noch mal was kommt, bleibt abzuwarten.

Links:

  1. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1181178.das-beste-aus-dem-nd-armut-und-soziale-probleme-lassen-sich-nicht-strafrechtlich-loesen.html
  2. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1181308.klassenjustiz-gerichtsreportage-es-muss-nicht-immer-knast-sein.html
  3. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1181302.klassenjustiz-kritik-der-berliner-sonderabteilung-fuer-armutsbestrafung.html