Die Generalprobe ist gelungen. Beim Fleche Wallonne stürmte Tadej Pogačar[1] mal wieder der Konkurrenz davon. Ein explosiver Antritt an der berüchtigten Mur de Huy, nur 1,2 Kilometer lang, aber mit einer Maximalsteigung von 18,6 Prozent, genügte. »Es ist schön, hier zu gewinnen. Jedes Jahr werde ich besser an der Mur. Und das Ergebnis stimmt mich auch optimistisch für Sonntag«, ließ Pogačar verlauten, nachdem er sich die Spuren von Straßendreck und Regen aus dem auch von Erschöpfung gezeichneten Gesicht gewaschen hatte.
Der slowenische Radstar[2] hatte am späten Mittwochnachmittag allerdings auch davon profitiert, dass die Gegner ihm das Leben nicht allzu schwer machten. Remco Evenepoel hatte zumindest versucht, mit mehr Tempo in die Mur zu fahren, um Pogačar zu zermürben. »Das Team hat auch gut gearbeitet. Mir hat dann aber die Explosivität gefehlt, um in den Kampf um den Sieg einzugreifen«, konstatierte der Belgier.
Wie das Peloton es in gemeinsamer Anstrengung schaffen kann, dem weltbesten Fahrer die Lorbeeren doch zu entreißen, hatte ein Wochenende zuvor das Amstel Gold Race gezeigt. Für den Schlüsselmoment hatte da der ehemalige Weltmeister Julian Alaphilippe gesorgt, von dessen Attacke 40 Kilometer vor dem Ziel Pogačar überrascht wurde. »Er zog ab wie eine Rakete. Vielleicht dachte er sogar, das Ziel liegt schon auf der Kuppe dieses Hügels«, blickte der Slowene mit Humor auf die Szene zurück. Er hatte wohl etwas später angreifen wollen, konnte den Franzosen aber auch nicht einfach ziehen lassen. »Einen wie ihn darfst du niemals unterschätzen«, mahnte der aktuelle Weltmeister[3].
Alaphilippe verließen dann allerdings ein paar Kilometer später die Kräfte – und Pogačar war wieder einmal allein vor dem Feld. Alles sah nach einem sicheren Sieg aus. Im Gegensatz zum letzten Jahr, als sich die Konkurrenz in ähnlichen Situationen resigniert mit dem Kampf um die Plätze hinter dem Superstar abgegeben hatte, verloren Evenepoel und der Däne Mattias Skjelmose aber nicht den Glauben an die eigene Stärke. Beide kämpften sich an Pogačar heran. »Ich hatte gehofft, hinter mir würden sie sich gegenseitig belauern, aber sie waren sehr starke Jäger«, bilanzierte Pogačar, der dann den Sprint gegen Skjelmose verlor. Der Star hatte sich verzockt: »Ich war ja die ganze Zeit allein vorne und wusste nicht, wie stark Evenepoel und Skjelmose sind. Daher wollte ich erst ihre Kräfte einschätzen und dachte dann, dass eine Sprintentscheidung eine gute Idee sei.«
Pogačars Niederlage beim Amstel zeigt: Er ist schlagbar. Aber nur dann, wenn andere ihn mit frühen Attacken in Zugzwang bringen, ihn vorn im Wind Kräfte verschleudern lassen und von hinten Druck machen. Doch trotz dieses Rückschlags kann der 26-jährige Slowene auf ein tolles Frühjahr zurückblicken. Bei sechs Eintagesrennen trat er an, dreimal gewann er, die anderen drei Male stand er auf dem Podium.
Derartige Ergebnisse sorgen für Zweifel, zuletzt sogar bis in die Führungsetage der Tour de France. »Angesichts der nicht sehr weit entfernten Vergangenheit des Radsports sind Fragen nach der Glaubwürdigkeit der Leistungen sicher berechtigt«, sagte Tour-Direktor Christian Prudhomme französischen Medien. Wie er selbst die Glaubwürdigkeit einschätzt, ließ er sich aber nicht entlocken: »Ich habe keine Antwort.« Und so reisen die Zweifel mit zu La Doyenne, dem Königsrennen der Ardennen-Klassiker. Dort scheint Evenepoel leicht im Vorteil. »Das Rennen ist länger, etwa eine Stunde mehr. Das dürfte Remco in die Karten spielen«, meinte dessen Sportlicher Leiter Klaas Lodewyck. Und Evenepoels Landsmann Laurens de Plus, der für den einst dominierenden Rennstall Ineos Grenadiers fährt, hält den Olympiasieger ebenfalls für favorisiert: »So, wie er auftritt, ist er voller Selbstbewusstsein. Und es ist auch gut, wenn nicht immer der Gleiche gewinnt.« Und so lautet das Motto am Sonntag zum Abschluss der Klassikersaison: Alle gegen Pogačar, auch für die Spannung und die Einschaltquoten.
Bei den Frauen[4], die ebenfalls am Sonntag ihre Ardennenkönigin krönen, ist das Feld der Favoritinnen vielgestaltiger. Natürlich wird der Sieg nur über das beherrschende Team SD Worx mit der belgischen Weltmeisterin Lotte Kopecky sowie Europameisterin Lorena Wiebes und der zweifachen Lüttich-Siegerin Anna van der Breggen aus den Niederlanden gehen. Deren Landsfrau Puck Pieterse unterstrich bei ihrem Sieg am Mittwoch an der Mur de Huy, wie stark sie ist. Die Ex-Mountainbikerin Pauline Ferrand-Prévot ist spätestens seit ihrem Roubaix-Triumph auch auf der Straße wieder Extraklasse. Und die beiden letzten Tour-de-France-Siegerinnen Demi Vollering und Kasia Niewiadoma deuteten zuletzt ebenfalls ihre gute Form bei Eintagesrennen an.