nd-aktuell.de / 24.04.2025 / Wissen / Seite 1

Wo das Eis am schnellsten schmilzt

Nirgendwo gefährdet der Gletscherrückgang so viele Menschen wie im Himalaja

Thomas Berger
Das Satellitenbild vom 20. Januar zeigt schneefreie Gebiete rund um den Mount Everest.
Das Satellitenbild vom 20. Januar zeigt schneefreie Gebiete rund um den Mount Everest.

Nicht nur in den Polregionen gibt es das »ewige Eis« – sondern auch in den Hochgebirgen. Doch zumindest in seiner einst imposanten Ausdehnung ist das Gletschereis dort kaum noch als ewig einzustufen. Die Rückgänge sind gravierend und finden immer schneller statt. Auch an der Südflanke des Himalaja ist das zu spüren. Dort erfolgt vom »Dach der Welt« – das tibetische Hochplateau umgebenden Sechs- bis Achttausendern – der Abfluss über etliche große Ströme, die für die Wasserversorgung des indischen Subkontinents unerlässlich sind. An die zwei Milliarden Menschen sind dort betroffen.

»Etwa 68,7 Prozent der Weltsüßwasserreserven sind in den Gletschern und Eiskappen konserviert.«

Manish Mehta Glaziologe

Im globalen Maßstab haben die Gletscher[1] zwischen 2000 und 2023 stolze 6,542 Milliarden Tonnen an Masse eingebüßt, heißt es im United Nations World Water Development Report 2025, der zum 21. März, dem ersten Weltgletschertag, vorgestellt wurde. »Das entspricht einem Eisblock von der Ausdehnung Deutschlands mit einer Dicke von 25 Metern«, erklärte Michael Zemp, Direktor des in der Schweiz ansässigen World Glacier Monitoring Service (WGMS).

Nirgendwo jenseits von Arktis und Antarktis gibt es so große Eismassen wie in der Hindukusch-Himalaja-Region[2], die sich von Afghanistan und Pakistan über Indien, Nepal und Bhutan bis nach Bangladesch, Myanmar und markante Teile Chinas spannt. Der Gletscherverlust erhöht unmittelbar das Risiko von Sturzfluten und Erdrutschen. Längerfristig droht wiederum Wasserknappheit: »Millionen von Menschen, insbesondere in landwirtschaftlichen Gemeinschaften, werden beim Fortsetzen dieses Trends zu kämpfen haben, um an sauberes Wasser zu kommen«, warnte Zemp.

In einem Interview mit der Zeitung »The New Indian Express« machte auch Manish Mehta, renommierter Glaziologe am Wadia Institute of Himalayan Geology in Dehradun, auf den Ernst der Lage aufmerksam: »Es ist Fakt, dass etwa 68,7 Prozent der Weltsüßwasserreserven in den Gletschern und Eiskappen konserviert sind. (…) Das Abschmelzen der Gletscher lässt nicht nur den Meeresspiegel ansteigen, sondern bedroht auch die Wasserversorgung in Gebieten, die von diesen Eis-Reserven abhängig sind.«

Es ist nicht nur das Ansteigen der Durchschnittstemperatur, das ein Abschmelzen der Gletscher beschleunigt. Sie haben gerade im Himalaja auch immer weniger Zeit, sich zu erholen, belegen jüngste Studien. So hat allein der besonders trockene und warme Winter 2024/25 die Schneegrenze in den nepalesischen Bergen deutlich angehoben. Besonders deutlich war dies auf der Aufnahme eines Nasa-Satelliten vom 20. Januar zu sehen – rund um den Mount Everest etwa mit Khumbu- und Rongbuk-Gletscher fallen dort weite schneefreie Gebiete auf, die bei einem Vergleichsbild vom 28. Januar 2022 noch weiß überzogen waren.

Tatsächlich war 2022 das letzte Jahr in jüngster Zeit, in dem die Schneegrenze auf durchschnittlicher Höhe lag, hat der Glaziologe Mauri Pelto vom Nichols College in einer umfassenden Auswertung solcher Satellitenbilder und lokaler Wetterdaten berechnet. In den Jahren 2021, 2023, 2024 und nun 2025 kletterte jeweils die Schneegrenze. Am 28. Januar lag sie bei 6100 Metern, 150 Meter höher als am 11. Dezember 2024, wird auf dem Nasa-Portal »Earth Observatory« aus den Studienergebnissen zitiert. Der Grund für den Rückgang im Winter sei nicht die Schmelze, sondern Sublimation – also der direkte Übergang von festem Schnee zu Wasserdampf.

Aber auch nach dem sommerlichen Monsun, wenn die Himalaja-Gletscher am ehesten die Chance haben, Schnee in neue Eismasse umzuwandeln, ist es wärmer als früher. Die daraus insgesamt folgende Wasserknappheit bedroht Ackerbauern ebenso wie Viehzüchter, deren Tiere immer weniger frisches Grün finden, heißt es. Nur 28 der rund 50 000 Gletscher im Himalaja stehen unter ständiger wissenschaftlicher Beobachtung, so der »New Indian Express«. In Vorbereitung auf die Internationale Konferenz zum Gletscherschutz Ende Mai in Tadschikistan wurde bereits in einer Zusammenfassung mehrerer Studien darauf verwiesen, dass zwei Drittel der Gletscher in der Region bis zum Ende des Jahrhunderts verschwunden sein dürften. Weltweit gehen Prognosen von einem Verlust eines Drittels aller Gletscher aus.

Indien hat 9575 Gletscher, erinnerte Raj Bhushan Choudhary, Staatsminister im Wasserministerium, am 20. März im Parlament. Fast alle verlieren in besorgniserregendem Umfang an Masse. In den Trockenzeiten stehe den großen Flüssen wie Indus, Ganges und Brahmaputra damit weit weniger Schmelzwasser zur Verfügung. Eines der bedrohlichsten Beispiele für das stark erhöhte Tempo ist der Gangotri-Gletscher, berichtete der »Deccan Chronicle«. Eine Studie hatte dessen Abschmelzen mit im Schnitt 18,8 Metern pro Jahr zwischen 1935 und 1996 errechnet. Laut jüngsten Erkenntnissen lag der Verlust 2022 nun bei 34 Metern. Der Ganges speist sich zu 70 Prozent aus Schmelzwasser – eine von zwei Hauptquellen ist der Gangotri.

Verheerende Gletschersee-Ausbrüche (englische Abkürzung: GLOF) könnten wiederum öfter auftreten. 2021 hatte ein GLOF bei einem vom Nandadevi-Gletscher gespeisten See im Bundesstaat Uttarakhand ein im Bau befindliches Wasserkraftwerk zerstört und 150 Arbeiter getötet. 58 Todesopfer, 74 Vermisste und immense Sachschäden gab es, als am Abend des 3. Oktober 2023 bei einer weiteren solchen Katastrophe der South Lhonak Lake am gleichnamigen Gletscher in Sikkim durchbrach[3]. Eine Mischung aus 50 Millionen Kubikmetern Seewasser und 270 Millionen Kubikmetern Sedimenten ergoss sich als verheerende Schlammlawine am Teesta-Fluss talwärts, hat ein Wissenschaftsteam im Nachgang berechnet und im Januar im Fachjournal »Science«[4] veröffentlicht. 2022 bis 2024 sei bisher global der Dreijahreszeitraum mit den höchsten Gletscherverlusten, so Celeste Paulo, Generalsekretärin der Weltorganisation für Meteorologie (WMO), beim Weltgletschertag. Es gehe um eine »Frage des Überlebens«, mahnte sie.

Links:

  1. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1189844.klimawandel-klimaklaeger-aus-den-peruanischen-anden.html
  2. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1165902.klimawandel-klimadrama-am-dritten-pol-der-erde.html
  3. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1178547.klimawandel-wasserkreislauf-weil-regen-nicht-einfach-vom-himmel-faellt.html
  4. https://www.science.org/doi/10.1126/science.ads2659