nd-aktuell.de / 25.04.2025 / Reise / Seite 1

Grenzgänger mit Tiefgang

Vor 25 Jahren wurde die Schaalsee-Region von der Unesco zum Biosphärenreservat ernannt. Gestresste Städter finden dort erstaunlich schnell zur Ruhe

Nicole Quint
Auch Kraniche gehören zu den vielen tierischen Bewohnern rund um den Schaalsee.
Auch Kraniche gehören zu den vielen tierischen Bewohnern rund um den Schaalsee.

Wie schimmernde Seide liegt er da – der See, von dem es heißt, man könnte der Welt an seinen Ufern ein Weilchen verloren gehen. Ein Arkadien für Alltagsdeserteure. Die Farben von Schilf, Büschen und Weiden leuchten in einem Geflecht aus Grün und Gold. Eine Schar winziger Vögel flammt aus diesem Dickicht auf und hüpft zirpend durch die Luft, bevor sie abdrehen und im gleißend hellen Sommerlicht verschwinden. Abgelenkt von der kleinen Zwitscher-Show wäre die scheue und ganz und gar ungiftige Ringelnatter beinahe unentdeckt geblieben, die jetzt flink unter eine Hecke gleitet. Sie gehört ebenso wie Fischotter, Haubentaucher, Waldeidechsen und Kraniche zu der großen, unzivilisierten Wohngemeinschaft, die hier am, auf und im Wasser haust.

Bis zu 72 Meter reicht Norddeutschlands tiefster See hinab, bei dem es sich genau genommen um neun miteinander verbundene Gewässer handelt. Ein traumblaues Idyll mit stillen Buchten, kleinen Sandstränden, Halbinseln und Inseln – alle geformt von der letzten Eiszeit. Umarmt von Bilderbuchdörfern, Feldern, Wäldern und Alleen lässt sich ohne Übertreibung feststellen, dass diese Seenlandschaft eine unleugbare Neigung zur Perfektion hat. Streuobstwiesen laufen in hügeligen Wellen zum See hinunter. An den Ufern wachsen Erlen, Buchen und dichtes Schilf, in dem sich viele Wild- und Wasservögel verstecken, und im Herbst rasten hier Tausende Zugvögel aus Skandinavien und Sibirien.

Bis 1989 schaukelten noch Grenzbojen auf dem See, um die Teilung der beiden deutschen Staaten zu markieren. Das DDR-Sperrgebiet war streng abgeschottet und kaum besiedelt. So blieben Flora und Fauna jahrzehntelang beinahe ungestört – Naturschutz quasi als Nebenwirkung des Kalten Krieges. Heute teilen sich Mecklenburg-Vorpommern und Schleswig-Holstein den Schaalsee und schützen ihn gleichermaßen. Seine westliche Hälfte gehört zum Naturpark Lauenburgische Seen, die Ostseite wurde im Jahr 2000 zum Unesco-Biosphärenreservat ernannt.

Die Ziele des Biospären-Konzeptes sind die Erhaltung der natürlichen Vielfalt und eine nachhaltige Nutzung, also eine Art Gegengeschäft, bei dem der Mensch so mit der Natur zusammenlebt, dass beide profitieren. Auf diese Weise konnte sich das Schaalseegebiet zum gefragten Urlaubsziel entwickeln und weiterhin landwirtschaftlich genutzt werden, ohne dass der Schutz des Artenreichtums in den vielen Klein- und Großbiotopen aufgegeben wurde.

Eine ganze Runde um den Schaalsee beläuft sich auf gut 46 Kilometer. Für kürzere Ausflüge empfiehlt sich auf der mecklenburgischen Seite das Städtchen Zarrentin am Südufer, mit einer schönen Promenade, Badestrand, Bootshäusern und dem ehemaligen Backsteinkloster der Zisterziensernonnen, das samt Kirche über dem See thront. Von dort spaziert man in knapp 20 Minuten zum Pahlhuus, dem Informationszentrum des Biosphärenreservats, wo neben mehreren Wanderwegen auch ein Bohlensteg beginnt, der durch das Kalkflachmoor am südöstlichen Schaalsee-Ufer führt.

Die Pflanzen des etwa 30 Hektar großen Moores nehmen Kalk aus dem Seewasser auf und bauen es in ihr Gewebe ein. Nach ihrem Absterben sinkt es auf den Seeboden, wo es sich zu mächtigen Kalkschichten von mehreren Metern anhäuft. Obendrauf lagert noch eine dicke Schicht Torf. Beste Bedingungen für die kalkliebende Binsenschneide, für Sumpf-Herzblatt, Floh-Segge, das violett blühende Fettkraut und einige seltene Orchideen. Kolbenente, Rohrammer und Eisvogel teilen sich ihr zu Hause mit vielen Fischen, Amphibien und mit über 50 Libellenarten, die sich beim Sonnenbaden auf dem Moorsteg beobachten lassen. Ein Ort für Menschen, die gerne einmal die Welt stillstehen und sich vom Zauber des Sees ergreifen lassen.

Völlig verzückt war auch der Dichter Friedrich Gottlieb Klopstock, der 1767 am Schaalsee weilte und der kleinen Insel Stintenburg vor lauter Begeisterung gleich eine lange Ode widmete. Unter einer alten Stieleiche soll er die 15 Strophen verfasst haben. Sein Ruf als Poeten-Muse beschert dem Baum mit der beeindruckend breiten Krone bis heute viele Besucher.

Auf die gerühmte Insel geht es anschließend über einen schmalen Kopfsteinpflasterdamm, der von der Gemeinde Lassahn am östlichen Seeufer zunächst nach Stintenburg und dann nach Kampenwerder führt, die größte Insel im Schaalsee. Das Frohe und Heitere, von dem Klopstock so hingerissen war, ist nach dem Ende der DDR wieder hierhin zurückgekehrt. Aus Freude und Dankbarkeit über den Mauerfall haben zwei Familien – eine aus Hamburg, eine aus Stintenburg – am 3. Oktober 1990 einen Baum auf der Insel gepflanzt. Eine Eiche, na klar, für alle zukünftigen Schwärmer und Dichter.