nd-aktuell.de / 28.04.2025 / Politik / Seite 1

Gedenken an NS-Opfer: »Geschichts­politisches Neuland«

Lothar Eberhardt engagiert sich seit den 80er Jahren für das Gedenken an NS-Opfer und die Entschädigung Überlebender

Interview: Peter Nowak
Interview mit Lothar Eberhardt – Gedenken an NS-Opfer: »Geschichts­politisches Neuland«

Sie sind seit drei Jahrzehnten in der Gedenk- und Erinnerungsarbeit aktiv. Wie sind Sie da hineingewachsen?

Ich bin als junger Mensch über die sozialistische Kulturorganisation Naturfreundejugend (NFJ) in Oberndorf am Neckar mit der geschichts- und erinnerungspolitischen Arbeit in Kontakt gekommen. Dort lernte ich auch die Arbeit des Rüstungsinformationsbüros Baden-Württemberg und der Friedensinitiative Oberndorf kennen. Oberndorf ist seit über 200 Jahren ein Standort von Waffenproduktion.

Was hat Sie damals an dieser Arbeit interessiert?

Die NFJ hat in den 80er Jahren die Geschichte der Arbeiter*innenbewegung aufgearbeitet. Wir hatten auch Kontakt zu holländischen Zwangsarbeiter*innen, die uns aus ihren eigenen Erfahrungen und ihrem Wissen auf die »Topographie des Terrors« in Oberndorf verwiesen. Etwa 6000 Zwangsarbeiter*innen aus ganz Europa mussten dort in der Nazizeit für die Rüstungsindustrie bei Mauser schuften. Es gab unterschiedliche Zwangsarbeiterunterkünfte: Baracken in der ganzen Stadt, Gasthöfe und teilweise private Unterkünfte. Hinter Stacheldraht waren in zwei Lagern jeweils etwa 2000 polnische und sowjetische Zwangsarbeiter*innen untergebracht. Der »Monitor«-Redakteur Wolfgang Landgraeber drehte den ARD-Film »Fern vom Krieg« über die Waffenproduktion in Oberndorf. Aus dem nicht verwendeten Material entstand der Film »Vergeben, aber nicht vergessen«, der 1986 in Zusammenarbeit mit der NFJ in Oberndorf im Kino uraufgeführt wurde. Der Film war eine friedenspolitische Provokation! Es war geschichtspolitisches Neuland und es wurden auch erstmalig Internierte des Arbeitserziehungslagers Oberndorf-Aistaig interviewt. Das Staffelholz dieser geschichtspolitischen Arbeit habe ich später weitergetragen.

Wie begann Ihre Zusammenarbeit mit den sowjetischen NS-Opfern?

Im April 1993 besuchte ich mit anderen Friedensfreunden in Moskau und Sankt Petersburg Aktivist*innen der Nichtregierungsorganisation Golubka, auf Deutsch Friedenstaube. Parallel dazu hatte ich über Kontakte in Berlin die Möglichkeit, bei der Bürgerrechtsorganisation Memorial, die sich um Opfer von Gewaltherrschaft kümmert, in Sankt Petersburg den Oberndorf-Film zu zeigen. Dabei waren auch für mich überraschend »Oberndorferinnen«, die mit ihren Eltern zur Zwangsarbeit deportiert worden waren, und Vertreter*innen des KZ-Häftlingsverbands Sankt Petersburg anwesend. Ich fragte die Zwangsarbeiterinnen, ob sie sich vorstellen könnten, nach Deutschland zu kommen, da ich wusste, dass der Film im Oktober des Jahres im Südfunk gezeigt wird. Ich ging davon aus, dass der Sender an der Begegnung mit Zeitzeuginnen[1] Interesse hätte. Doch dem war nicht so. So wurde ich zum Reiseleiter, Organisator, Öffentlichkeitsarbeiter und Betreuer in einer Person. Olga Newedomskaja, ehemalige Zwangsarbeiterin (nicht in Oberndorf), war als Dolmetscherin unersetzbare ständige Begleiterin.

Kam es dadurch zu Ihrer entschädigungspolitischen Arbeit?

Eigentlich schon. Die Vertreter*innen des KZ-Häftlingsverbands Sankt Petersburg nutzten die Gelegenheit, mir ihre Anliegen vorzutragen, weil sie hofften, dass ich sie in Berlin, meinem damaligen Wohnort, unterstützen könnte. Sie unterrichteten mich über ihre Anfrage an den deutschen Bundestag zu den humanitären Ausgleichszahlungen für erlittenes NS-Unrecht über eine Milliarde Deutsche Mark. Diese wurden 1992 im Rahmen eines bilateralen Abkommens der russischen Föderation und der Bundesrepublik geregelt, was in der deutschen Öffentlichkeit nicht bekannt war. Die aufgeworfenen Fragen nahm ich mit zurück nach Berlin und erörterte sie in meinen geschichtspolitischen Zusammenhängen.

War das eine Grundlage des Stukenbrocker Appells[2]?

Stimmt. Der Appell wurde Ende April 1994 während eines Gedenkstättenseminars zu sowjetischen Kriegsgefangenen von der Stiftung Topographie des Terrors, der Aktion Sühnezeichen Friedensdienste (ASF) und dem Förderverein Dokumentationszentrum Senne/Stalag 326 initiiert. Wir tagten in Schloss Holte Stukenbrock am historischen Ort. In dem sowjetischen Kriegsgefangenenlager wurden zwischen 1941 und 1945 etwa 300 000 Kriegsgefangene unter menschenunwürdigen Bedingungen gefangen gehalten. Die Lagerzeit haben etwa 65 000 Menschen nicht überlebt.

Was war der Inhalt des Appells?

Bei der Tagung sprachen unterschiedliche Initiativen offene Fragen von sowjetischen NS-Opfern an, die an sie herangetragen worden waren. Wir, die Teilnehmenden, haben sie unter der Überschrift »Den NS-Opfern Gehör verschaffen« in dem Appell gebündelt. Es gab bis dahin keine öffentliche Auseinandersetzung. Es war eine Initialzündung der entschädigungspolitischen Arbeit, die die Betroffenenperspektive in den Fokus rückte und Öffentlichkeit herstellte.

Wie haben Sie den Appell bekannt gemacht?

Mit Hilfe von ASF[3]. Die Organisation unterstützte uns mit ihrer Logistik und ihrem geschichts- und erinnerungspolitischen Netzwerk bei unserer ehrenamtlichen Arbeit. Ich war einer der verantwortlichen Koordinatoren des Appells von 1994 bis 1997 bei der ASF. Mit dem Stukenbrocker Appell haben wir entschädigungspolitische Geschichte geschrieben.

Wie ging es mit Ihrer erinnerungspolitischen Arbeit weiter?

Die Arbeit vervielfältigte sich. Wir wurden als politischer Bündnispartner wahrgenommen. 1985 bat mich der Antifaschist und Begründer der Interessengemeinschaft ehemaliger Zwangsarbeiter Alfred Hausser[4], ihn in Berlin bei einer Tagung zum 50. Jahrestag der Befreiung vom Faschismus zu vertreten. Daraus entstand eine langjährige Zusammenarbeit bei entschädigungspolitischen Fragen zu NS-Zwangsarbeit. So erreichten uns zahlreiche Anfragen von NS-Opfern aus Osteuropa wegen der »humanitären Ausgleichszahlungen«. Für ihre Ansprüche benötigten sie Dokumente über die geleistete Zwangsarbeit in Deutschland. Dabei konnten wir sie in unseren Möglichkeiten unterstützen.

Veränderte sich Ihre Arbeit mit der Einführung des Gedenktags für die Opfer des NS im Jahre 1996 und der »Zwangsarbeiter-Entschädigung« ab 2000?

Der Gedenkroutine etwas entgegensetzen, verstanden wir als Auftrag, den offiziellen Gedenktag an die NS-Opfer mit unseren Veranstaltungen zu bereichern, in denen unsere Inhalte und offenen Fragen im Zentrum standen.

Können Sie einige Beispiele nennen?

Wir haben Zeitzeug*innen eingeladen zu unterschiedlichen Themen wie vergessene NS-Opfer, zu Griechenland unter dem Hakenkreuz und den italienischen Militärinternierten. Ab 2000 stand für die Interessengemeinschaft ehemaliger Zwangsarbeiter die kritische Begleitung des Prozesses der Auszahlung der »Zwangsarbeiter-Entschädigung« durch die Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft im Fokus. Die Zahl der Anfragen der Betroffenen nach Unterstützung bei ihren Nachweisdokumenten stieg enorm. Oft konnten sie genau beschreiben, wo sie interniert waren, hatten aber nicht die nötigen Nachweise für die Antragstellung bei den zuständigen Partnerorganisationen.

Wie führten Sie Ihre vielfältige Geschichtsarbeit fort?

Ein weiterer Hauptstrang war die Arbeit mit den sogenannten Asozialen. Ab 2007 haben wir mit dem »Arbeitskreis Marginalisierte – gestern und heute« in zahlreichen Veranstaltungen und Forschungsarbeiten die Geschichte der sozialen Ausgrenzung und das Gedenken an die sogenannten Asozialen ins Zentrum gestellt. In meinem Wohnbezirk ist daraus ein Projekt zum Gedenken an den Sinti-Boxer und deutschen Meister von 1933 Johann »Rukelie« Trollmann[5] hervorgegangen. Aktuell arbeiten wir an einem Comic zu seinen Leben.

Glauben Sie, dass wir zum 80. Jahrestag aus der Geschichte lernen können?

Ich bin eigentlich Optimist. Die aktuellen politischen Entwicklungen stimmen mich aber pessimistisch: Kann aus Geschichte überhaupt gelernt werden? Mein Resümee als »Jungopa« ist dennoch verbunden mit der Hoffnung, dass es die Enkel besser ausfechten. Mein Leitgedanke bleibt: Friede den Hütten – Krieg den Palästen.

Links:

  1. https://www.schwarzwaelder-bote.de/inhalt.oberndorf-a-n-begegnung-in-versoehnlicher-atmosphaere.bff770a9-6d5d-4020-89f1-6730b0106445.html
  2. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1181654.ns-verbrechen-stukenbrocker-appell-einsatz-fuer-sowjetische-ns-opfer.html
  3. https://asf-ev.de/wp-content/uploads/asf_zeichen_2_2021_Spuren_der_Vernichtung_online.pdf
  4. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1166451.antifaschismus-konsequenter-antifaschist.html
  5. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1173897.holocaust-gedenken-erinnern-an-porajmos-gerechtigkeit-fuer-sinto-boxer-trollmann.html