nd-aktuell.de / 24.04.2025 / Kultur / Seite 1

Derya Yıldırım: Goethe wusste, weiß Yıldırım schon längst

»Yarın Yoksa« heißt das neue Album von Derya Yıldırım & Grup Şimşek. Es ist ihr insgesamt viertes, und zugleich ihr bestes.

Luca Glenzer
Derya Yıldırım und die Grup Şimşek
Derya Yıldırım und die Grup Şimşek

»Was, wenn es kein Morgen gibt?«, das fragt sich die Berliner Musikerin Derya Yıldırım auf ihrem neuen Album »Yarın Yoksa«. Zumindest lässt sich so der türkische Titel ins Deutsche übersetzen. Und tatsächlich richtet auch die darauf zu hörende psychedelische Musik ihren Fokus mitsamt ihrer einnehmenden, charakteristischen Aura ganz auf das Hier und Jetzt.

Im Zentrum ihrer Texte steht dabei die Frage nach Heimat und Identität. Dabei zeugt der Sound von Yıldırım und der Grup Şimşek – so der Name ihrer Band – selbst vom dialektischen Spannungsverhältnis dieses Themas: Denn einerseits sieht sich das Quartett in der Tradition des Anadolu Rock der 70er Jahre. Andererseits ist gerade dieses Genre, das Ost und West, anatolische Folklore und westlich geprägte Rockmusik miteinander verbindet, der beste Beweis dafür, dass die Frage nach Identität und Zugehörigkeit in der Regel eben gar nicht so einfach zu beantworten ist. Das wusste bekanntlich schon Goethe, der in seinem »Divan« vor gut 200 Jahren festhielt, dass Orient und Okzident nicht mehr zu trennen seien.

Doch was Goethe wusste, weiß Yıldırım schon lange. Mitte der 90er Jahre wurde sie als Tochter einer Gastarbeiter-Familie in der dritten Generation in Hamburg geboren. Dort kam sie durch ihren Vater früh in Kontakt mit der Bağlama, einem anatolischen Saiteninstrument, das sie so nachhaltig faszinierte, dass sie 2013 schließlich zur ersten und einzigen Studentin deutschlandweit wurde, die das Instrument als Hauptfach wählte.

Bereits auf den drei Vorgängerplatten hat es den Sound der Band entscheidend geprägt. Auf »Yarın Yoksa« nimmt es nun sogar noch einen prominenteren Platz ein als zuvor. Schon in der funkigen Vorabsingle »Cool Hand« soliert Yıldırım derart virtuos wie lässig drauflos, dass die Frage nach dem Oben und Unten nach dem Hören des Songs nicht mehr ganz so eindeutig zu beantworten ist. Was aber nicht weiter schlimm ist, denn im transzendentalen Klangkosmos der Band sind derartige Orientierungskategorien ohnehin Schnee von gestern. Im Laufe des Albums präsentiert sie die Band dann stilistisch beeindruckend breit aufgestellt: »Bilemedim Ki« und »Yakamoz« etwa sind rührselige, anklagende Ballade. In letzterer besingt Yıldırım das Gefühl der Entwurzelung. »Dönemem evime, bir daha Bakamam geriye«, heißt es darin (»Ich kann nicht mehr nach Hause gehen/Ich kann nicht zurückblicken«). »Hop Bico« hingegen strahlt mitsamt seiner kinderliedartigen Melodie und choralen Passagen eine erfrischend naive Zuversicht aus, während Songs wie »Yüz Yüze« nahelegen, dass die beteiligten Musiker*innen im Laufe der vergangenen Jahre die eine oder andere Platte von 60er-Jahre-Bands wie The Doors oder Jefferson Airplane gehört haben. Zu diesem Eindruck trägt nicht zuletzt auch der Vintagesound bei, den die Band erstmals fernab des europäischen Kontinents in New York gemeinsam mit Leon Michels aufgenommen hat. Der verwaschene Klangcharakter verstärkt das von der Musik transportierte Gefühl, dass die Vergangenheit unwiederbringlich verloren ist, was dank der Ausnahmemusik Yıldırıms ausnahmsweise ein irritierendes Wohlsein erzeugt.

Derya Yıldırım & Grup Şimşek: »Yarın Yoksa« (Big Crown Records)