Eine weitere Hürde im Neuordnungsprozess in Syrien[1] ist genommen. Vor einigen Tagen versammelten sich in der nordsyrischen Stadt Qamischli mehrere Hundert Vertreterinnen und Vertreter kurdischer Organisationen, um eine gemeinsame Position in der Frage der Neuordnung des syrischen Staates nach dem Ende des Regimes von Diktator Assad und der Machtübernahme der HTS in Damaskus zu beschließen. Zuvor war das Datum der Konferenz immer wieder verschoben worden, da sich die verschiedenen Parteien wiederholt uneins über Inhalte der beschlossenen Resolution waren.
Alleine dass es zu einer solchen Konferenz kam, grenzt an eine kleine Sensation im kurdisch geprägten Nordosten Syriens. Die beiden größten kurdischen Parteien, die Partei der demokratischen Union (PYD) und der Kurdische Nationalrat in Syrien (ENKS) waren in den vergangenen Jahren zum Teil tief zerstritten gewesen.
Dies liegt neben der politischen Ausrichtung der Parteien auch an ihren Verbindungen zu anderen kurdischen Organisationen in den Nachbarländern Irak und Türkei. Während die PYD die treibende Kraft hinter dem Aufbau der Selbstverwaltung war und ideologisch der linken PKK nahesteht, ist der ENKS vor allem mit der KDP im Nordirak eng verbunden und steht dieser eher kurdisch-nationalistischen Partei nahe. Der Konferenz waren wiederholt Treffen zwischen den beiden Lagern auch außerhalb des Landes vorausgegangen.
Das nun verabschiedete Dokument soll den Rahmen für eine gemeinsame Verhandlungsposition gegenüber Damaskus schaffen und dafür sorgen, dass die Kurden in den Gesprächen nicht geschwächt werden[2]. Neben Kurdisch als Amtssprache und einer Garantie der Staatsbürgerschaft für Kurdinnen und Kurden, die diese unter dem Assad-Regime verloren hatten, dürfte wohl vor allem die Forderung nach einem dezentralen Syrien in den Verhandlungen mit der Regierung entscheidend werden.
Im neuen Syrien sollen die kurdischen Regionen als »politische und administrative Einheit zusammengefasst werden«. Zuvor war in den Verhandlungen unklar gewesen, wie weitgehend die Forderungen nach politischer Autonomie der kurdischen Regionen sein würden. Der neue syrische Präsident Ahmed al-Scharaa hatte Autonomie-Bestrebungen stets eine Absage erteilt.
Auch jetzt wiederholte er diese Position. Man lehne jeden Versuch ab, eine Teilung durchzusetzen oder »separatistische Kantone« einzuführen. Die Einheit des syrischen Territoriums und des Volkes seien eine rote Linie. Diese Haltung entspricht auch der im März beschlossenen Übergangsverfassung, die von Minderheitenvertretern als eine Fortsetzung des arabisch-nationalistischen Kurses des Regimes unter Assad bezeichnet worden war. Ob die Regierung in Damaskus diese Position halten kann, bleibt abzuwarten. Nachdem Anfang März ein Abkommen zwischen SDF und al-Scharaa geschlossen worden ist, sollen die ersten Kommissionen zwischen kurdischer Seite und der Regierung in Damaskus ihre Arbeit bereits aufgenommen haben.
Als weiterer wichtiger Schritt zur Befriedung Syriens war eine zwar nicht offiziell erklärte, aber de facto herrschende Waffenruhe im Norden zwischen der SDF und türkisch unterstützten Milizen unter Einbeziehung der neuen syrischen Regierung gesehen worden. Grundsätzlich wird al-Scharaa abwägen müssen, wie lange er seine komplette Ablehnung eines föderalen Modells in Syrien halten kann. Denn nicht nur in den kurdischen Regionen gehen die Minderheiten des Landes mit selbstbewussten Positionen in die Aushandlung mit Damaskus.
Nach den Massakern an der alawitischen Gemeinde im Westen des Landes[3] fordern auch die Drusen im Süden das Landes zunehmend einen eigenen Status und scheuen nicht vor einer Konfrontation mit der HTS zurück. In der Nacht auf Dienstag soll es südlich von Damaskus zu schweren Gefechten zwischen HTS und drusischen Milizen gekommen sein.
Eine Fußnote der Konferenz in Qamischli war auch der angestoßene Prozess in der Türkei zwischen kurdischen Vertreter*innen und der türkischen Regierung. Er hätte nach öffentlichen Verlautbarungen nach einem Treffen von Vertretern der prokurdischen DEM-Partei mit Erdoğan Anfang April an Fahrt aufnehmen sollen, geriet aber erneut ins Stocken, nachdem einer der Gesprächsführenden, der DEM-Abgeordnete Sirri Sürreyya Önder, überraschend nach einem schweren Herzleiden ins Koma gefallen war. Er befindet sich seit zwei Wochen weiterhin in Lebensgefahr im Krankenhaus. Ein Treffen der DEM-Partei mit dem Justizminister wurde deshalb verschoben. Auf ihm forderte die kurdische Seite Haftverbesserungen für die politischen Gefangenen sowie freie Arbeitsbedingungen für den PKK-Gründer Öcalan. Praktische Schritte stehen weiter aus.
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/1190895.syrien-kurden-in-syrien-einheit-gegen-damaskus.html