Der Kulturbetrieb ist Schauplatz von Konflikten. Absagen sind alltäglich geworden. Kaum ein Tag vergeht ohne neue Boykottaufrufe, Petitionen und Protestaktionen. Da ist es schon eine gute Nachricht, wenn Künstler*innen versuchen, verstärkter Polarisierung entgegenzuwirken. Die israelische Psychoanalytikerin, Philosophin und Künstlerin Bracha Lichtenberg Ettinger entschied sich bewusst gegen ihren vor langer Zeit gefassten Entschluss, nicht in Deutschland auszustellen und ihre Werke nun im Düsseldorfer K21 zu zeigen. Nach dem Massaker der Hamas am 7. Oktober 2023 war sie aus der Findungskommission der Documenta 16 zurückgetreten, um einen Moment innezuhalten und zu trauern. Die 1948 – noch vor der Staatsgründung Israels – in Tel Aviv geborene Friedensaktivistin engagiert sich in Menschenrechtsorganisationen wie Physicians for Human Rights, Women Wage Peace oder dem Palestinian-Israeli Forum of Bereft Families für gleiche Rechte von Israelis und Palästinenser*innen. Sie gehört zu jenen Stimmen, die sich für ein sofortiges Ende des Krieges in Gaza starkmachen, die jedoch kaum Gehör finden.
»Wie die Dichterin kann die Künstlerin in ihrer Kunst mit jedem Pinselstrich nur den Boden der Welt fegen, während und im Nachgang jeder Katastrophe, in der Hoffnung auf etwas Licht«, glaubt Lichtenberg Ettinger und macht sich dieses Privileg der Ruhe und des Innehaltens zu eigen. Malerei lässt sich demnach zuallererst als persönliche Praxis der Selbstsorge oder therapeutische Übung verstehen. Zu denken gibt die betonte Alltäglichkeit dieser künstlerischen Selbstbeschreibung. Stoisch arbeitet die Künstlerin über lange Zeiträume an kleinen und kleinsten Formaten, um das zu verarbeiten, was unbegreiflich ist.
Dies ist den Collagen, Aquarellen, Skizzen und der Malerei auf Leinwand deutlich anzusehen. Die Palette ist über die Jahre immer heller und leuchtender geworden. Daran lässt sich eine Entwicklung erkennen, konturierte Werkphasen, wie bei anderen Künstler*innen, die souverän über ihr Material und ihre künstlerischen Mittel verfügen, jedoch nicht. Lichtenberg Ettinger setzt immer wieder neu an, als ginge es darum, herauszufinden, welche Darstellungsmöglichkeiten überhaupt vorstellbar sind. Anstelle von Kunstwerken, die alles in eine stimmige kompositorische Ordnung bringen, treten Momente des Innehaltens, die etwas auf der Bildfläche stehen lassen. Kunstbetrachtung wird somit zu einem Prozess der Einfühlung. Klassische kunsthistorische Fragen, nach der Stimmigkeit des Bildaufbaus, der Malweise, dem Materialeinsatz oder der Bedeutung einzelner Bildelemente rücken dabei in den Hintergrund. Es entsteht Raum für Assoziationen.
Wo Landschaften, Körper, Formen und dergleichen gesehen werden können, verflüchtigen sie sich auch wieder. Die Asche und der photoskopische Staub, den die Künstlerin – auch im psychoanalytischen Sinne – verarbeitet, wird bedeckt von unzähligen Farbschichten, die sich wie Firnis, Patina oder Schleier darüberlegen. Alles erscheint behutsam eingehüllt, nicht, um es zu verbergen, sondern um es zu berühren, festzuhalten und zu schützen, wo die Erinnerungen allzu flüchtig ist. Wenige emotional aufwühlende Fragmente aus Büchern, Familienfotos, Luftaufnahmen werden immer wieder herangezogen. Szenen, wie eine Gruppe entkleideter Frauen mit Kindern vor der Exekution durch SS-Truppen, die Eltern beim Spaziergang durch das jüdische Ghetto in Lodz oder militärische Luftaufnahmen des heutigen Palästina aus dem Ersten Weltkrieg, aufgenommen von deutschen Soldaten des Kaiserreiches. In einer frühen Phase legte die Künstlerin diese Bilder auf den Fotokopierer, unterbrach die Belichtung, verwischte die Spuren der unvollendeten Reproduktion, unterbrach die Mechanik der Erinnerung.
Wie könnte sie sich auch an etwas erinnern, was ihr Erinnerungsvermögen übersteigt, transgenerationale Traumata, die sich mit fortwährender Gewalt verknüpfen? Dieser künstlerische Prozess ist höchst belastet durch die Gewaltgeschichte des zwanzigsten Jahrhunderts. Es kann nicht darum gehen, »den Horror in Bildern zu erfassen«, schrieb Jacques Rancière[1] über »Geschichtsbilder« (2013), »sondern das zu zeigen, was eben gerade kein ›natürliches‹ Bild hat, die Unmenschlichkeit, den Prozess einer Negation der Menschlichkeit.« Er widersprach damit dem vielfach falsch zitierten Satz von Theodor W. Adorno, demzufolge nach Auschwitz keine Kunst mehr möglich sei. Nach Rancière kommt Kunst vielmehr die Aufgabe zu, »etwas Unsichtbares zu zeigen […] da sie allein in der Lage ist, das Unmenschliche sinnlich spürbar zu machen.«
Aber wie kann das gehen? Wie soll das aussehen? Viele Künstler*innen haben dies auf einfühlsame, schockierende oder höchst fragwürdige Art und Weise versucht. Lichtenberg Ettingers Bilder zielen jedoch nicht darauf, die Katastrophe, das Unmenschliche, das Grauen zur Darstellung zu bringen. »Kunst die mich interessiert«, sagt sie, »geht in Liebe vor, im Vertrauen in die menschliche Fähigkeit, Wut und Schmerz sublimierend zu zügeln und zu vermitteln und die Trümmer, die Überreste der Gewalt mittels einer neuen Form umzuwandeln, die – durch das, was man ihre Schönheit nennt und was ihre Wahrheit ist – den Wunsch hervorruft, sich dem anderen in Hingabe, die über Mitgefühl hinausgeht [compassion – beyond-empathphy] fürtragend zuzuwenden.«
In diesen Worten ist die Psychotherapeutin zu vernehmen, die sich einer künstlerischen Selbstsorge unterzieht, um nicht zu verbittern. Ihre Kunst verspricht »mütterliche Heilung, wenn sie allen Widerständen zum Trotz die menschlichen Fähigkeiten des Staunens, der Ehrfurcht und der Hingabe herbeifleht, während sie sich um das Leid der Anderen sorgt und die Last der Welt und ihrer Erinnerung trägt.« Dagegen ist schwer etwas zu sagen, auch wenn die auferlegte Bürde untragbar erscheint. Offenes Staunen kann der Anfang einer intensiven Beschäftigung, vielleicht sogar eines offenen Gesprächs sein. Es kann aber auch überwältigen, verstummen lassen und entwaffnen, wo es absolut gesetzt wird.
Kunst wird in den philosophischen Schriften Lichtenberg Ettingers als »ästhetische proto-ethischer matrixialer (matricialer) Raum« vorgestellt, in dem sich der Übergang vom Sinnlosen zu neuem Sinn vollziehe, der das Sinnlose nicht erkläre, sondern ein Gefühl der Verbundenheit entstehe. Den Betrachter*innen ihrer Kunst verlangt dies sehr viel ab, angesichts der realen Erfahrungen von Krieg und Gewalt. Ob es dennoch gelingen kann, in der Kunst von Bracha Lichtenberg Ettinger etwas gegen alle Widerstände Versöhnendes zu erkennen, ist die gewichtige Frage, die sie ihren Betrachter*innen stellt.
Bracha Lichtenberg Ettinger: »Engel des Fürtragens/Angel of Carriance« bis 31. August im K21 der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen in Düsseldorf