Von Hans-Dieter Schütt
Umfragen geben in der Regel die Ansichten wieder, die durch sie erst hervorgerufen werden. Die Umfrage hat den demokratischen Prozess der Meinungsbildung geradezu erstickt, hat ihn längst in den industriellen Kreislauf einer Unterhaltung eingespeist, welche die Komplexität der Welt meist auf die Entscheidung zwischen »Ja« und »Nein« zusammenschnurren lässt. Und das bereits als Teilnahme an dieser Welt suggeriert. Der »Ted« ist die Stimmzettel-Urne zwischen den Wahljahren, und bereits Kindern gerät, was Ergebnis eines bedachten Urteils sein sollte, regelmäßig zur raschen Kategorisierung: Top oder Flop; kurz, knapp, katastrophal.
Auch der Verbund der deutschen Lehrinstitute für Orthographie und Schreibtechnik (LOS) hat nun eine Online-Umfrage gestartet – nach dem beliebtesten deutschsprachigen Gedicht. Zunächst 35 Texte stellte der »Wortspiegel«, die Berliner LOS-Fachzeitschrift, ins Netz. Am Ende haben fast 30 000 Schüler, Pädagogen und Eltern an dieser Aktion teilgenommen, erweiterten laufend mit eigenen, insgesamt 232 Gedichtvorschlägen die Kandidatenliste. Die ersten drei der Abstimmung: Theodor Fontanes »Herr Ribbeck auf Ribbeck im Havelland«, Johann Wolfgang von Goethes »Zauberlehrling«, Friedrich Schillers Ode »An die Freude«. Die Top Ten der Lyrik werden vervollständigt von einer weiteren Goethe-Ballade (»Erlkönig«) sowie je einem Gedicht von Gotthold Ephraim Lessing, Hermann Hesse, Heinz Erhardt (»Warum die Zitronen sauer wurden«), Günter Nehm, Ernst Jandl und Wolf Biermann (die gesamte Liste im Internet unter www.LOSdirekt.de[1]).
Man darf eine solche Umfrage wohl als Positivfolge der allgemeinen Verunsittung des veröffentlichten Meinungsbildung ansehen. Denn das eigentliche Ergebnis sind nicht die Nominierten, sondern die Impulse, sich neu oder wieder mit Lyrik zu beschäftigen; die Wahl eines Lieblingsgedichts als Anstoß für eine erweiterte Hinkehr zum Vers. Man muss sich nur in einer Buchhandlung umsehen, und sei sie noch so gut sortiert: Gedichtbände fristen ihr Schattendasein im Hintergrund der allgemeinen Aufmerksamkeit – auch eine Aktion wie diese der LOS rückt ein wenig das Bild dieser Randständigkeit zurecht. Und so ist man auch bereit, den beschriebenen, berechtigten Unwillen gegen Umfragen für Momente zu besänftigen.
Brecht, Heine, Kästner sind natürlich dabei. Aber es tut besonders gut, Namen wie Rilke, Hebbel, Mörike, Droste-Hülshoff, Eichendorff zu lesen. Das ist ein Brückenschlag in andere Zeiten, der ein Gewichtlein aufbaut – gegen unser Verhuschen in fiebriger Gegenwart, die nichts anderes kennt als immer nur sich selber. Dass es die Ballade weit nach vorn schaffte, der sattsam berüchtigte Textberg und Sinnbild einer verfluchten Paukerei, die ganze Generationen von Schülern als Alb verfolgte – auch dies räumt mit einem Vorurteil auf.
Und vielleicht gehört es zu den Kennzeichen einer besonders sensiblen Pädagogik, wenn sie es vermag, just die Erlebnisfelder der Poesie in einen Abenteuerspielplatz des Empfindens zu erheben. In Zeiten der rechnerischen Kühle, der schnörkellosen Effizienz und der umschweifelosen Direktwege zum Zählbaren und Handfesten.
Die LOS-Umfrage behauptet mit einem fröhlichen Trotz den hohen Grundwert, das Leben für geheimnisvoll zu halten. Das Gedicht beschwört die quälende, schöne Wahrheit, dass es unzählige Dinge zwischen Himmel und Erde, zwischen Geburt und Tod gibt, auf die man sich keinen Reim machen kann, aber wohl durchaus seinen Vers. Und der gute Vers spricht letztlich alles so aus, dass das Unsagbare unverletzt bleibt, wir Wohlgefallen dabei empfinden. Man schaut auf die Liste dieser Online-Erkundigung, trifft auf Matthias Claudius und Walther von der Vogelweide und weiß sich wieder eingemeindet in die Reihe derer, die sich mit allgemeinem Kulturpessimismus nicht abfinden. Jedes Gedicht, das gelesen wird, arbeitet – wie Gänseblümchen – mit an der Balance der Welt. Man muss ja Gedichte nicht mal kaufen: in eine Buchhandlung gehen, einen Lyrikband aufschlagen, ein Gedicht lesen, wieder hinausgehen. Der Tag wird fortan ein anderer sein ...
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/126221.gedichte-wie-gaensebluemchen.html