So wie man gelegentlich pointiert, dass Karl Marx kein Marxist gewesen sei, war auch Charles Darwin kein Darwinist. Aus heutiger Perspektive betrachtet, schreibt der Wiener Biologe Rupert Riedl in seiner »Kulturgeschichte der Evolutionstheorie«, war Darwin ein Lamarckist. Was heißt das? Es heißt zunächst, dass Darwin vor einem Dilemma stand. Denn die Kraft der natürlichen Auslese kann sich nur dann entfalten, wenn unter den Individuen einer Art Variationen auftreten, die erblich sind. Wären sie dies nicht, käme die Evolution nicht von der Stelle.
Wie aber funktioniert die Vererbung? Eine Antwort auf diese Frage hatte der französische Naturforscher Jean-Baptiste de Lamarck schon 50 Jahre vor Darwin gegeben – in seinem 1809 erschienenen zweibändigen Werk »Philosophie zoologique«. Die Lamarcksche Auffassung firmiert bis heute unter dem Kürzel »Vererbung erworbener Eigenschaften« und wird gern am Beispiel der Giraffe illustriert: Weil deren Vorfahren sich verzweifelt nach den Blättern der hohen Bäume reckten, dehnten sich ihre Hälse. Und die längeren Hälse vererbten die Giraffen weiter an ihre Nachkommen.
Auch Darwin versuchte zu erklären, wie die Resultate des vermehrten oder verminderten Organgebrauchs in der Generationenfolge übertragen werden. 1868 formulierte er zu diesem Zweck seine »Pangenesistheorie« und knüpfte wie Lamarck an das überlieferte Konzept der Vererbung erworbener Eigenschaften an. Denn Gene waren seinerzeit gänzlich unbekannt. Darwin postulierte, dass alle Körperzellen winzige Partikel enthalten, die etwa durch den verstärkten Gebrauch eines Organs modifiziert werden und über den Blutstrom in die Keimzellen gelangen. Auf diese Weise erben die Nachkommen die verstärkte Anlage für das betreffende Organ.
Heute wissen wir, dass solcherart »weiche« Vererbung nicht stattfindet. Oder, um beim Beispiel der Giraffe zu bleiben: Deren Vorfahren reckten ihre Hälse nicht verzweifelt gen Himmel. Sie brachten vielmehr Nachkommen mit kürzeren und längeren Hälsen zur Welt; diejenigen Tiere, die am besten die Blätter der hohen Bäume verwerten konnten, überlebten und pflanzten sich fort.
Von den Proteinen, den Funktionsträgern der Zelle, so lautet ein Grundsatz der modernen Biologie, gelangt keine Information in die Gene. Zwar werden in der Entwicklung des Individuums Gene an- und abgeschaltet, auch unter dem Einfluss der Umwelt. Die Basenfolge der DNA bleibt davon jedoch unberührt; die DNA ist sozusagen schreibgeschützt. Denn ein Übermaß an genetischen Veränderungen würde den Fortbestand der jeweiligen Art gefährden.
Doch kommen wir noch einmal zurück auf Lamarck, der oft als Wegbereiter der Abstammungslehre bezeichnet wird. Was aber meinte Darwin? Recht bissig stellte dieser fest: »Der Himmel bewahre mich vor dem Lamarckschen Unsinn eines Strebens nach Fortschritt.« Tatsächlich vertrat Lamarck der Auffassung, dass den Organismen bei ihrer Urzeugung gleichsam die Fähigkeit verliehen worden sei, sich von innen heraus zu vervollkommnen. Zudem sorge die »weiche« Vererbung dafür, dass in der Umwelt erworbene Fortschritte im Organisationsniveau langfristig erhalten blieben. Statt also eine natürliche Abstammung zu begründen, nahm Lamarck an, dass die Entwicklung der Arten verschiedener Klassen parallel und stufenförmig erfolgt. Und hierin liegt fürwahr ein gravierender Unterschied zu Darwin, der keinen »Fortschrittstrieb« in der Natur benötigte, sondern die natürliche Selektion als treibende Kraft der Artenentwicklung ansah. Dennoch: Indem er produktiv über Lamarck hinausging, hat Darwin seinem Vorgänger zugleich ein Denkmal in der Geschichte der Biologie gesetzt.
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/153965.wird-erlerntes-vererbt.html