Das Panorama vom Belvedere ist überwältigend: Wie eine klaffende Wunde zerreißt die tiefe Schlucht Gravina das graue Karstplateau. Die steile Felswand vis-a-vis gleicht einem Schweizer Käse mit finsteren Löchern, die in mehreren Etagen neben- und untereinander liegen. Und über diesem seltsamen Massiv thront ein Sahnehäubchen aus Häusern, Klöstern und Kirchen, das im milden Licht pastellfarben leuchtet.
Matera heißt diese einzigartige Stadt. Sie liegt 30 Kilometer von der Küste entfernt im Hinterland von Taranto an der Grenze zwischen Apulien und der Basilicata und wurde berühmt durch Italiens wohl außergewöhnlichstes Monument der Weltkultur. Die »Sassi« nämlich, jene Löcher unter der Stadt, sind mysteriöse Grotten, die bereits in grauer Vorzeit in den weichen Tuffstein getrieben und bis nach dem zweiten Weltkrieg nahezu ununterbrochen bewohnt wurden.
Ein von Gott verlassener Ort im Mezzogiorno, den der junge Turiner Arzt Carlo Levi 1935 kennenlernt. Im weltbekannten Roman »Christus kam nur bis Eboli« schildert er in drastischen Bildern diese archaische Welt voller Armut und Verwahrlosung. »Ich sah in das Innere der Höhlen, die Licht und Luft nur durch die Türen empfangen. Einige besitzen nicht einmal solche; man steigt von oben durch Falltüren und über Treppchen hinein. In diesen schwarzen Löchern mit Wänden aus Erde sah ich Betten, elenden Hausrat und hingeworfene Lumpen. Auf dem Boden lagen Hunde, Schafe, Ziegen und Schweine. Im allgemeinen verfügt jede Familie nur über eine solche Höhle, und darin schlafen alle zusammen: Männer, Frauen, Kinder und Tiere.«
Die Zustände in Matera sind so übel, dass die Stadt als »nationale Schande« gilt. Noch bis Anfang der 50er Jahre vegetieren in den Sassi 20 000 Menschen unter erbärmlichen Bedingungen. Die Kindersterblichkeit ist viermal so hoch wie im Rest Europas; anderswo fast ausgerottete Krankheiten wie Malaria und Typhus halten sich hier überaus hartnäckig. Erst 1954 ist Schluss damit: Die Sassi werden zwangsgeräumt, die Menschen in Sozialwohnungen umquartiert.
Dreißig Jahre später erst begreift man in Italien, welcher einzigartige kulturhistorische Schatz in Matera allmählich verfällt. Die Behörden setzen eine umfassende Sanierung in Gang, die bis heute andauert. 1993 erklärt die UNESCO die Sassi zum Weltkulturgut, und auch Hollywood hat die Stadt inzwischen als Kulisse entdeckt: Die Kreuzigungsszenen in Mel Gibsons umstrittener »Passion Christi« wurden in der Schlucht von Matera gedreht.
Ein Erkundung der Sassi-Welt beginnt – am besten in Begleitung eines professionellen Führers – im Normalfall oben in der Stadt. Vorbei an gespenstisch toten Augenhöhlen verlassener Grotten, aber auch flankiert von vielen Sassi, die inzwischen tadellos restauriert und nagelneuen Nutzungen zugeführt wurden. Als attraktive Eigentumswohnungen etwa, doch auch Souvenirgeschäfte, Bistros, Trattorias und stilvolle Hotels haben in Grotten und sogar ganzen Höhlen- Systemen ein neues Zuhause gefunden.
Weiter unten faszinieren nicht nur großartige Blicke in den wilden Gravina-Canyon, hier verschafft eine Panoramastraße auch direkten Zugang zu ganzen Sassi- Vierteln. Wie das Leben hier einst aussah, wird im kleinen Höhlenkino per Dokumentarfilm veranschaulicht; die Casa Grotta nebenan ist eine museale Wohnhöhle mit originalen Einrichtungsgegenständen – selbst ein Pferd fehlt hier nicht – und liefert eine bedrückende Vorstellung vom früheren Alltagsleben einer Bauernfamilie.
Zu den herausragenden Grotten- Schätzen gehören Dutzende von Höhlenkirchen. Die Kirche Santa Lucia alle Malve oberhalb der Casa Grotta zum Beispiel geht zurück auf Basilianermönche, die vom 9./10. Jahrhundert bis 1283 in der Gegend wirkten. Obwohl noch bis 1960 als Wohnung und Stall genutzt, besticht die Kirche durch die Schönheit und Klarheit ihrer fast 800 Jahre alten Fresken.
Matera ist aber nicht nur die Stadt der Sassi, sie hat auch ein lebhaftes Zentrum mit sehenswerter Altstadt. Ausgangspunkt: die Piazza Vittorio Veneto. Mit barockem Palazzo del Governo und einem dachlosen Kloster, das als luftige Caféhaus- Terrasse einen fabelhaften Blick über die Dächer der Stadt ermöglicht. Eine nette Kulisse aber nicht nur für Touristen auf ihren Streifzügen durch die obere Altstadt und ihre zahlreichen Kirchen; auch die Einheimischen schätzen das autofreie Scharnier zwischen Alt- und Neustadt: Männer zum Debattieren, Frauen zum Tratschen, Jungvolk zum Lärmen, Rentner zum Plauschen. Und wer Glück hat sieht vielleicht sogar eine Hochzeit. Mit dem einzigartigen Matera als Hintergrund.
Infos: Italienische Zentrale für Tourismus ENIT, Barckhausstraße 10 60325 Frankfurt am Main, Tel.: (069) 23 74 34, E-Mail: frankfurt@enit.it[1], www.enit-italia.de, www.sassitourism.it, Literatur: Carlo Levi »Christus kam nur bis Eboli«, »Kalabrien – Basilicata«, Dumont-Kunstreiseführer ISBN 37701-5541-6; 25,90 €
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/175395.vom-schandfleck-zum-schatz.html