Die Leiden des jungen N.
Philip Meinhold: »Fabula rasa« ist ein rasantes Roadmovie
Aber wenn ich eins in meinem Leben gelernt hab, auch wenn's bisher nicht allzu lang dauert, dann dass es nie zu spät is' für was. Es gibt bestimmte Dinge, die muss man einfach erzählen ... Hauptsache, es hört jemand zu.« Was der sechzehnjährige Nino Zimmermann auf der Seele hat und sich mit dieser rasanten »Coming-of-age-Story« (früher nannte man das die Geschichte einer Adoleszenz) von der Seele lädt, ist ein harter Brocken neuer Wirklichkeit, ein krasses Stück Lebenserfahrung, ein Horrortrip. Dafür braucht Nino tatsächlich vor allen Dingen Menschen, die ihm zuhören. Denn das wissen wir ja schon, seit wir von den Leiden des jungen W. und des jungen H. (»Der Fänger im Roggen«) gelesen haben, dass sich die Einsamkeit eines Halbwüchsigen weder durch einen strafenden Lehrer, noch einen Psychoanalytiker mit Familien-Aufstellung überwinden lässt, sondern eben nur durch Menschen, die einen Sechzehnjährigen ernst nehmen. Der Autor zeigt uns, wie das gehen könnte. Eine erste zarte Liebeserfahrung gehört dann selbstverständlich auch zum Erwachsen-Werden, aber nicht unbedingt gleich, eher später.
Wir lesen von einem krassen Weg ins Leben. Nino braucht ein ganzes Jahr, um wieder in die »Normalität«, welche auch immer, zurück zu finden. Und der Autor braucht einen ganzen Roman, das zu erzählen, und zwar in einer den Erlebnissen adäquaten »krassdeutschen« Sprache, einer Sprache, die vom Sound zahlreicher Hip-Hop-Stücke getragen wird.
Sie hat ihre eigene, kantige Poesie. »Was für ein Film, der hier von der Rolle spult./ Alles geht und nichts geht mit rechten Dingen zu./ Das Problem, steht die Welt erst mal Kopf/ gibt es niemanden mehr, der diesen Zug noch stoppt ...«
Nino, dessen Name uns doch sehr an »Nerno« und »niemand« erinnert, ist ein Junge aus einem Reihenhaus in Berlin-Reinickendorf. Die »miefige, piefige Geruchsmixtur« dieser »Homebase« wird ihm allerdings erst später bewusst. Zunächst ist noch alles in Butter. Die kleine Drei-Personen-Familie spielt Reihenhausfamilienleben, der dreizehnjährige Nino und sein Freund Danny haben gerade die Hip-Hop-Band »Zwei fickende Hunde« gegründet, mit der sie mal berühmt werden wollen.
Da baut Nino mit seinem Mountainbike einen Unfall, alles wegen einer blöden Wette mit Danny. Bei Rot rast er über die Kreuzung und landet bewusstlos im Krankenhaus. Bald kehrt er »aus der Tonne« ins Leben zurück, aber mit einemmal ist zu Hause alles anders.
Sein Vater redet plötzlich nicht mehr mit ihm. Alle Versuche des Jungen, ihn auf sich aufmerksam zu machen, sind vergeblich. Der Vater schweigt, und die Mutter tut so, als ob sie nichts bemerkt.
Da wirft Nino eines Tages ein paar Klamotten in seinen Rucksack und haut ab. Die erste Nacht verbringt er in einer öffentlichen Toilette unter Obdachlosen und Kiffern, dann landet er, was schon komfortabler ist, in einer WG von Öko-Freaks. Diese Typen sind eigentlich ganz nett zu ihm, so dass er es eine Weile bei ihnen aushält, dann zieht er weiter. Nino Diabolo, wie er sich jetzt nennt, macht Pause auf einem Friedhof, dann landet er auf einem Rummelplatz mit Riesenrad und Geisterbahn.
Ja, das Leben ist halt eine Berg- und Talfahrt. Das muss Nino früh lernen. Ob es am Ende doch wieder irgendwann im Reihenhaus endet, das wissen wir ebenso wenig wie dieser Nino selbst.
Philip Meinhold: Fabula rasa. Roman. Mitteldeutscher Verlag. 344 S., geb., 22,80 €.
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