Die eigne Welt
Bernhard Schlink: »Sommerlügen«, wie es sie immer wieder gibt
Sommerlügen« heißt der Band, weil er im Sommer verkauft werden soll. In den meisten Texten ist auch Sommer, und gelogen wird hin und wieder mal – wissentlich oder unwissentlich. In der letzten Erzählung, »Die Reise nach Süden« zum Beispiel bekennt eine alte Frau ihrer Enkelin, was sie noch immer schmerzt: Der Student, mit dem sie ihre erste Liebe erlebte, habe sich von ihr abgewandt. Aber dann zeigt sich, dass es gar nicht so war. Unbewusst hatte die Frau sich ihre Erinnerung so zurechtgebogen, dass ihre eigene Unentschlossenheit, Feigheit nicht mehr vorkam. Als junges Mädchen hatte sie sich schlichtweg für die bessere Partie entschieden. Sie hatte ihre eigene gutbürgerliche Welt nicht verlassen wollen.
Für ihre Enkelin ist das kaum nachvollziehbar, aber auf andere Weise wird sie es vielleicht auch noch erleben. Würde sie sich denn von ihrer gewohnten Lebensweise – ihrer Ungebundenheit, Freiheit – so leicht verabschieden für einen Partner, der andere Vorstellungen hat? Ob es die Frau ist oder der Mann oder beide – oft bedeutet Zusammenleben doch, dass auch etwas aufgegeben werden muss, was mit den Jahren umso schwerer fällt.
So sitzt in der ersten Erzählung, »Nachsaison«, ein Mann auf der Treppe eines Mietshauses in New York und zögert, zu seiner Wohnung hinaufzusteigen. Denn käme er nach seinem Urlaub einfach heim, würde das liebgeworden Gewohnte wieder schnell von ihm Besitz ergreifen, und er wäre sich nicht sicher, ob er es dann hinter sich lassen könnte. Susan, die Frau, die er im Süden kennengelernt hatte, besitzt eine luxuriöse Wohnung in Manhattan. Nach deren Renovierung plant sie, dort ihren Hauptwohnsitz zu nehmen; der Geliebte würde mit einziehen, klar. Er wird es wahrscheinlich auch tun, aber er hatte es sich einfacher vorgestellt. »Er hatte sich nicht der Tatsache stellen wollen, dass er das alte Leben für das neue aufgeben musste.«
Bernhard Schlink hat einen genauen Blick dafür, wie Zusammenleben immer auch Verhandlungssache ist, und das hat wohl weniger mit seiner juristischen Tätigkeit als mit seiner Lebenserfahrung zu tun. Meist erzählt er ja aus der Sicht von Männern, in die er sich gut einfühlen kann. Leser mögen sich in ihrer Seele verstanden fühlen; für Leserinnen ist es auf andere Weise ein Gewinn.
Emanzipierte Frauen von heute sind sich doch oft so sicher, dass ihre Lebensvorstellungen auch für ihre Partner das Allerbeste sind. Wenn sie beruflich sehr ausgelastet sind, wie Anne aus der Erzählung »Die Nacht in Baden-Baden«, sind ihre Ansprüche umso größer. Zweisamkeit ist ihnen wahrscheinlich wichtiger als einem Mann an ihrer Stelle. Sie planen Zeit dafür ein; das Glück soll so groß sein, dass es ihnen lange noch Halt gibt. Für Anne ist, auch wenn sie andernorts beschäftigt ist, ihr langjähriger Freund unverzichtbar. Er ahnt nicht, wie sie ihn braucht, fühlt sich mitunter vernachlässigt, wünscht sich, sie würde aufhören, dauernd in der Welt herumzureisen. Aber sie verlöre den Boden unter den Füßen, kämen ihr Zweifel an seiner Liebe. Was wiederum sie nicht weiß: Wie ihr Anspruch ihn immer wieder in Schwierigkeiten bringt, die er bewältigen muss, sonst verliert er sie.
Manchmal scheint es in diesen Geschichten, als hätten sich tradierte Geschlechterrollen umgekehrt. In »Das Haus im Wald« ist es ein Mann, der verzweifelt den Zusammenhalt seiner Familie verteidigt, indem er heimlich die Zufahrt zu seinem Haus blockiert. Aber seine Frau kommt ihm auf die Schliche. »Sie wollte nicht begreifen, dass sie ihre Rechnungen nicht ohne ihn machen konnte. Es wurde Zeit, dass sie es endlich lernte. Er stand auf. ›Ich liebe dich, Kate.‹ Mit welchem Recht sah sie ihn entsetzt an? Mit welchem Recht sagte sie zu ihm: ›Du bist verrückt geworden.‹«
Wie Menschen, die eng verbunden sind, einander doch immer ein Rätsel bleiben, davon handeln diese subtilen Erzählungen. Wenn Anne meint, nur in Wahrheit könne sie leben, ist das, so allgemein ausgedrückt, eine Illusion. Selbst wenn sie nicht so oft von ihrem Freund getrennt wäre, es wäre schlicht unmöglich, alles über ihn zu wissen, zumal jeder Mensch sogar sich selbst eine Menge verschweigt. Und mit der Zeit türmt sich dieses Schweigen immer höher. Kennt man einander denn noch?
In »Johann Sebastian Bach auf Rügen« unternimmt ein Sohn mit seinem Vater eine Reise. Er ist auf der Suche nach Nähe, die er zeitlebens vermisste, aber die Kräfteverhältnisse sind natürlich anders als in seiner Kinderzeit. Der Vater fühlt sich befragt und antwortet nur knapp. »Rede mit mir«, ruft der Sohn verzweifelt. »Willst du nicht, dass wir dich kennen?« – Der Vater lässt den Ausbruch über sich ergehen. »Ich denke, ihr kennt mich ... Du musst nicht meinen, dass ich dir etwas Dramatisches vorenthielte.«
Bernhard Schlink: Sommerlügen. Erzählungen. Diogenes Verlag. 279 S., geb., 19,90 €.
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