»Kokoschkins Reise« heißt der Roman, für den Hans Joachim Schädlich den Internationalen Corine-Buchpreis erhält. Dieser Kokoschkin reist nach Russland, nach Deutschland, nach Prag. Er besucht Orte seiner Kindheit, Jugend, Fluchten. Erinnerungen an jenes Mahlwerk der Geschichte, das dem 20. Jahrhundert die Blutwunde des politischen Extremismus einrammte.
Schädlich war – kalter Zynismus der Sprachspielerei – »Schädling«. So hieß der stasigesteuerte Vorgang, zu dem dieser Mensch wurde. Bespitzelt auch vom eigenen Bruder, der sich zur Tarnung aus der SED ausschließen ließ – und später Selbstmord beging. Die Prosa, die Hans Joachim Schädlich vergeblich in der DDR zu publizieren versuchte – sie sprengte, so hieß es, »den kulturpolitischen Rahmen« der Republik. Nach einer Veröffentlichung von Prosa im Westen (»Versuchte Nähe«) wurde er »staatsfeindlicher Hetze« bezichtigt. 1977 verließ er den Staat, der ihn so drangsaliert hatte.
Nach dem Ende der DDR hegte er »die fromme Erwartung «, dass Spitzel der Stasi »wenigstens darauf verzichten, in der demokratischen Gesellschaft Abgeordnete, Anwälte, Beamte, Bischöfe, Lehrer, Offiziere, Pfarrer, Polizisten, Professoren, Radiomoderatoren, Psychiater sein zu wollen«. Das Wort »fromm« hatte er bewusst gewählt. Ein Wort ganz in der Nähe von Weltfremdheit.
Schädlich, 1935 in Reichenbach geboren, ist stets ein langsamer, genauer Autor gewesen. Der sezierende Blick seiner Reflexionen, die Feinfühligkeit der Wahrnehmung – zwischen Protokoll und Fiktion dünnste Membranen – schufen eine ganz eigene Sprachform: »Tallhover« – Roman eines Geheimpolizisten aus dem 19. Jahrhunderts, der zugleich unsterblicher Archetypus des Staatsspions ist; oder »Schott«, Roman über das freie Individuum, das »unter dem Abfall der Ideologen hartnäckig nach Essbarem sucht« (Paul Ingendaay); »Die Sprachabschneider«, ein (vermeintliches) Kinderbuch vom Teufel, der die Sprache raubt, eine Parabel über Zensur.
Schädlich ist ein vom Trauma Diktatur befreiter Erzähler geworden, aber auch in dieser Freiheit leuchtet in seinen Büchern auf, was jede menschliche Existenz zerbrechlich, vorläufig und wenig bestimmbar macht.
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/177179.feingefuehl.html