Als die schottische Regierung vor genau einem Jahr Abdelbasset Megrahi in sein Heimatland Libyen ausreisen ließ, machte Justizminister Kenny MacAskill »humanitäre Gründe« geltend: Megrahi sei unheilbar an Prostatakrebs erkrankt und habe »maximal drei Monate« zu leben. An diesem Freitag darf er den ersten Jahrestag der Freilassung in seiner Villa in Tripolis feiern; angeblich will Saif al-Gaddafi für die Kosten aufkommen.
Obwohl Saifs Vater, der libysche Staatschef Muammar al-Gaddafi, öffentliche Feiern wie vor einem Jahr bei der Ankunft von Megrahi diesmal untersagt hat, »um die USA und Großbritannien nicht zu provozieren«, steht insbesondere die schottische Führung durch Megrahis scheinbar überraschend robuste Gesundheit blamiert da.
Mittlerweile stellte sich zudem heraus, dass die Überlebensprognose vor einem Jahr ohne Konsultation mit Spezialisten getroffen wurde. Dr. Zak Latif, der Urologe von Megrahi: »Ich war überrascht, als ich von seiner Freilassung hörte, denn mich hat keiner um meine Meinung gefragt.« Die Frist von drei Monaten oder weniger war Bedingung für die humanitäre Freilassung. MacAskill sagte vor einem Jahr: »Megrahi kehrt zum Sterben nach Libyen zurück.«
Die Indizien häufen sich, dass die meist verfeindeten Regierungen in London und Edinburgh übereinstimmend Megrahi wie eine heiße Kartoffel los werden wollten: Der Ölkonzern BP hoffte auf lukrative Förderrechte in Libyen und umgekehrt versprach der lange geächtete Ölstaat für seine Rückkehr in die Staatengemeinschaft Milliardeninvestitionen, um die insbesondere Schottland warb, wo die Nationalisten seit 2006 eine Minderheitsregierung führen und die Unabhängigkeit weiter als politisches Ziel verfolgen.
Indes bestehen bis heute ernste Zweifel an der Verurteilung Megrahis: 2001 wurde der libysche Geheimdienstmann trotz zahlreicher Ungereimtheiten als Einziger für den Lockerbie-Anschlag von 1988 mit 270 Toten zu 27 Jahren Haft in Schottland verurteilt. Megrahi, der stets seine Unschuld beteuerte, bereitete gerade eine Berufung vor, als ihm die schottische Führung plötzlich überaus verständnisvoll begegnete. Freilich bedeutete Justizminister MacAskill ihm damals auch, dass er nur in die Heimat überstellt werde, wenn er auf einen Einspruch verzichte. Derzeit versuchen Aktivisten eine Neuaufnahme des Verfahrens, doch Juristen halten dies für »praktisch unmöglich«.
In die USA, woher die Mehrzahl der Lockerbie-Opfer stammte, sorgt die Tatsache, dass Megrahi weiter am Leben ist, für Empörung. In ihrem Kreuzzug gegen den neuesten Satan BP verlangen vier Senatoren die Veröffentlichung der Krankenunterlagen von Megrahi. Britische und schottische Politiker haben Vorladungen vor den Kongress zurückgewiesen. Kardinal Keith O'Brien, Oberhaupt der katholischen Kirche in Schottland, warf den USA vor, nicht an Gerechtigkeit interessiert zu sein, sondern allein nach »Rache und Vergeltung« zu streben.
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/177857.ein-totgesagter-lebt-noch-immer.html