Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs bot sich regelmäßig alle zehn Jahre Gelegenheit, noch einmal über die außergewöhnlichen Umstände nachzudenken, die zu einem Krieg von so erschreckendem Ausmaß, so ungeheuerlicher Zerstörungskraft geführt haben, einem Krieg, vor dem sich selbst die Opfer und Verluste des vorausgegangenen Ersten Weltkrieges (1914-1918) klein ausnahmen. So konnte man sich auch die Ursachen dieses gewaltigen Konflikts nur sehr groß vorstellen. Tatsächlich gab es in der Weltordnung der Nachkriegszeit, im kapitalistischen System oder in der politischen Geographie Europas systemische Schwächen, die den kommenden Konflikt schürten. Und es lag Untergangsstimmung über dem Kontinent, überall mühte man sich darum, mit einer düsteren Wirklichkeit zurechtzukommen; überall herrschte das Gefühl, dass dieser Weltteil, der gewohnt war, sich für den Mittelpunkt der modernen Zivilisation und Kultur zu halten, offenbar davor stand, in den Abgrund neuerlicher Barbarei zu stürzen.
Das ist der Hintergrund dieses kleinen Buchs. Die Absicht ist, eine kurze Geschichte zu erzählen, die mächtige Folgen hatte und die sich am Ende von zwanzig Jahren Unsicherheit und Krise zutrug, die auf den Ersten Weltkrieg folgten ...
Mit den folgenden Ausführungen möchte ich zeigen, dass nichts in der Geschichte unausweichlich ist. Der eigentümliche Austausch zwischen System und Akteuren vollzieht sich im Innersten der historischen Erzählung. Ereignisse können beides sein: Auslöser und Folge, und das gilt umso mehr für die Ereignisse, die Europa vor siebzig Jahren in den Kriege führten.
Aus dem Vorwort von Richard Overy für sein Buch »Die letzten zehn Tage. Europa am Vorabend des Zweiten Weltkriegs. 24. August bis 3. September 1939« (Pantheon, 159 S., br., 12,95 ).
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/178739.leseprobe.html