W enn der Debütroman einer 30-Jährigen nicht von urbanem Zeitgeist durch-woben ist, nicht in Berlin spielt, nicht von den sausenden Forderungen der Jetztzeit handelt, ist das allein schon bemerkenswert. Judith Zander, Absolventin des Leipziger Literaturinstituts und eigentlich Lyrikerin, siedelt den Mittelpunkt der Welt in Bresekow an, einem gottverlassenen Dorf nahe Anklam. Nichts ereignet sich hier, was über die Grenzen des Nachbardorfs hinaus von Interesse sein könnte. In diesem Nichts paaren sich Stumpfsinn und Sehnsucht. Sie zeugen große Tragödien.
Die Tragödien in diesem Buch schlummern lange unter einer dichten Decke aus Schweigen und Vergessen, Geheimniskrämerei und Vorbehalt; Alkohol wässert das Moos. Erst der Tod der alten Anna Hanske reißt eine Wunde in den Boden, darin sich Abgründe auftun. Dieses Reißen, freilich, lässt Zander in einer Langsamkeit geschehen, die dem Leser viel guten Willen und Ausdauer abfordert.
Das mähliche Vordringen ins Verborgene erfolgt nicht linear. Es gibt keinen Erzähler, es gibt neun. Deren Namen stehen über den Kapiteln. Dazu ein plattdeutsche Versatzstücke einstreuender Chor (Die Gemeinde) und gewollt plump verdeutschte Beatles-Zitate (John & Paul). Ein solches ist auch der ungelenke Romantitel: »Dinge, die wir heute sagten« – »Things we said today«. Das Stimmengewirr dieser multiperspektivischen Rollenprosa wirkt umso befremdlicher, als Dialekt, Umgangssprache und antiquierte Ausdrucksweisen das Einfühlen ins Erzählte hindern. Weit entfernt ist dieser Stil von Authentizität. Man glaubt nicht, dass da Menschen sprechen. Es sprechen Figuren, die allesamt fremd bleiben – einander, dem Leser.
Das Buch ist ausschweifend, es fehlt ihm die Mitte. Keiner der vielen Protagonisten ist der Stern, um den etwa alles kreiste. Dabei könnte es die unnahbare Ingrid sein, jene verlorene Tochter der verstorbenen Hanske, die noch zu DDR-Zeiten das Dorf floh (und ihren missratenen Sohn Henry, Frucht einer Vergewaltigung); jene Ingrid, die in den Westen ging, in Irland heiratete und ein neues Kind gebar, Paul. Als Erbin des Hanske-Hauses, das sie verkaufen will, kehrt sie nach über zwanzig Jahren vorübergehend zurück. Diese Ingrid, deren Erzählstränge in distanzierender Du-Form geschrieben sind, weckt, von den Dorfbewohnern beäugt, verkannt, die schlafenden Geister. Ohne etwas dazu zu tun.
Der Beatles-Bezug lenkt den Blick jedoch auf Ingrids Sohn Paul, der dem jungen McCartney ähnelt. In ihn verliebt sich die 17-jährige Romy, ein zurückgezogener, tagebuchschreibender, reflektierter Beatles-Fan. Durch Romys Blick teilt sich die Abscheu vor der verwahrlosten Dorfjugend mit, die auf der Elpe (dem verwaisten LPG-Gelände) vor sich hin pöbelt, prügelt und protzt. Der angebetete Paul wird Romy vor dieser Kulisse zum wahr gewordenen Traum. Einem Traum, der vergeht wie jeder Traum und der herrührt aus den Untiefen des Bewusstseins.
Judith Zanders komplexer, metaphern- und referenzsatter Roman übt passagenweise sprachliche Sogkraft aus. Dramaturgisch wünschte man, die Autorin hätte die Kirche im Dorf gelassen.
Judith Zander: Dinge, die wir heute sagten. Roman. dtv, 480 S., brosch., 16,90 €.
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/180965.wo-stumpfsinn-und-sehnsucht-sich-paaren.html