Still, kalt und leer ist der Winterabend in der Berliner Nalepastraße. Wie ausgestorben wirkt das Gelände mit seinen monumentalen Studiogebäuden. Kleine Schilder mit der Aufschrift »Into the Dark« weisen die Richtung. Da das Gelände vereist ist, muss man Umwege laufen, so dass der Gang zum Kleinen Sendesaal zu einer Art Schnitzeljagd wird.
Nach der frostigen Anreise erscheint dieser hübsche, holzvertäfelte Raum doppelt gemütlich. Zumal man seine Schuhe ausziehen, in Wollsocken schlüpfen und schließlich auf einer Liege mit angenehm massierenden Schaumstoffnoppen Platz nehmen darf. Ganz langsam geht das Licht aus. Auf geht es »Into the Dark« (in die Dunkelheit) mit der Regisseurin Sabrina Hölzer und dem Solistenensemble Kaleidoskop.
Stockfinster ist es nun. Kleine Geräusche drängen sich auf: ein lauter Atemzug, ein Knarren im Parkett. Dass wir mit den Ohren hören, ist nur die halbe Wahrheit. Normalerweise hören die Augen mit. Im Konzert sehen wir die Anzahl der Musiker, welche Instrumente sie verwenden und wer zu einem Solo ansetzt. Der Klangeindruck wird dadurch vorher bestimmt.
Sabine Hölzer aber entfernt diese optischen Krücken und konfrontiert uns mit unvorhersehbaren, unerwarteten Klängen. Auf dem Rücken liegend, höre ich Schritte. Das werden die Musiker sein. Wie viele es sind, weiß ich nicht. Und auch nicht, was sie spielen werden.
Bühne und Zuschauerraum sind hier keine getrennten Sphären; die Musiker bewegen sich zwischen den aufgereihten Liegen im Saal hin und her. Mal rieseln ihre Töne wie Sternschnuppen aus allen Richtungen; mal fühlt man sich wie in einer Badewanne aus Klang. Dann wieder bringt ein Kontrabass am Kopfende den ganzen Körper zum Vibrieren.
Es erklingt Musik für Streicher aus dem ausgehenden 20. Jahrhundert: von Morton Feldman, John Cage, Salvatore Sciarrino oder Dieter Schnebel. In Besetzungen von der Sologeige übers Streichquartett bis zum Kammerorchester. Ich gebe mir Mühe, genau und sorgfältig zuzuhören. Doch manchmal trägt mich der Klang hinweg, was durch das bequeme Liegen begünstigt wird. Dann wieder frage ich mich, wie die verschiedenen experimentellen Streicherklänge entstehen – ein Hauchen, Schnarren oder Brummen; im Dunkel kann ich mir ihr Zustandekommen nicht erklären.
Erstaunlich, dass die Musiker nie an eine der Bettkanten stoßen. Sabine Hölzer hat mit einer Mobilitätstrainerin und zwei blinden Guides ein Konzept zur Orientierung ausgearbeitet: Der Boden ist präpariert durch ein mit den Füßen erspürbares Netz von Leitlinien, auf dem sich die Musiker bewegen. Ein Dirigent ist natürlich überflüssig; ein Schnaufer markiert die Einsätze.
Dass sich hier niemand die Beine bricht, ist allein schon bemerkenswert. Aber wie lebendig und präzise die Musiker spielen – immerhin auswendig und ohne den gewohnten Blickkontakt – das ist eine wahre Meisterleistung.
Produzent ist der Verein »Zeitgenössische Oper Berlin«. Eine Oper kann man »Into the Dark« beim besten Willen nicht nennen. Aber vielleicht eine Vorstufe, hat doch Regisseurin Hölzer die Vision eines non-visuellen Musiktheaters, bei dem Raum, Musik, Handlung und Text allein über die Ohren wahrgenommen werden. Angesichts heutiger Reizüberflutung, deren Trend zu Events längst auch die Klassik ergriff, ist das eine gute Idee.
Am Ende geht ein Dämmerlicht auf, damit man den Ausgang findet. Draußen brennt das Weiß des Schnees in den Augen.
Nächste Aufführungen: 5. bis 8.1.
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/186825.hoeren-ohne-augen.html