Es wird ein langer Roman«, sagte Paul Murray mir, als ich ihn vor drei Jahren in Frankfurt fragte, woran er aktuell arbeite. Es könnte ein Weilchen dauern, bis man nach »An Evening of Long Goodbyes« wieder von ihm hören würde. Nun ist die Wartezeit vorbei. Und der junge irische Erzähler (Jahrgang 1975) hat nicht übertrieben: »Skippy stirbt« ist über 700 Seiten schwer. Eine pralle Geschichte über Leben und Sterben, Jugendillusionen und Altersabgeklärtheit, das Gute und das Böse, Liebe und Hass.
Fette Jungs lieben magere Mädchen, pädophile Priester tarnen sich gegenüber beziehungsunfähigen Lehrern. Murray versammelt Typen und Charaktere im irdischen Universum des von katholischen Padres und Ex-Missionaren geleiteten, erzkonservativen Seabrook College in Dublin und katapultiert mit dem ihm eigenen feinen Spott die Welt seiner vierzehn- und vierzigjährigen Protagonisten aus dem modischen Fantasyambiente zurück ins wirklich (?) wahre Leben. Aus Dämonen werden nörgelnde, tablettensüchtige oder exzessiv ehrgeizige Mütter, aus den Hütern des Schatzes werden Sportstudio-Junkies, die schwarzen Reiter tragen Talare und verfallen ihren kleinen (schwarzen) Schützlingen. Gesellschaften, Nationen, Klassen, ethnische Minderheiten und Mehrheiten tummeln sich in Murrays fiktivem Mikrokosmos. Ihre Geschichten verweben sich.
Die Internatsschüler Daniel »Skippy« Juster und Ruprecht van Doren teilen sich ein Zimmer und könnten verschiedener nicht sein. Der hochbegabte Ruprecht verbringt seine Zeit mit wissenschaftlichen Experimenten und dem Versuch, die scheinbaren Welten der Lebenden und Untoten zu erkunden. Skippy dagegen scheitert schon am echten Leben: Abgeschoben von seinem die Krankheit seiner Frau verdrängenden Vater und der erziehungsuntüchtigen Mutter, projiziert er alles, was er an Gefühl hat, auf Lori Wakeham, die schönste Prinzessin auf der benachbarten Mädchenschule St. Brigid's. Das Töchterchen aus bestem Hause wiederum liebt eigentlich den brutalen Loser Carl Cullen, der sich als Drogendealer sein Taschengeld verdient. Howard »Hasenfuß« Fallon hat seine Karriere in der Londoner Finanzwelt zu Gunsten einer Geschichtslehrerexistenz aufgeben müssen. Sein Leben ist durch einen tragischen Unfall überschattet. Während »Howard the Coward« seine Beziehung zur kettenrauchenden Amerikanerin Halley beendet, weil er sich in die sexy Teilzeitdozentin Aurelie McIntyre verliebt, bastelt Greg »der Automator« Costigan am Aufstieg als erster nichtkirchlicher Direktor des Colleges.
Murray komponiert eine unglaubliche Vielfalt wunderbarer kleiner Geschichten zu einem großen Roman, mit viel Witz und exquisiter Ironie. Der Held / die Heldin der Geschichte ist nicht eine/r, sondern viele. Das ist genial und enorm unterhaltsam. Und ein multiliterarisches Experiment: das Jugendbuch als Liebesroman als Abenteuergeschichte als Ratgeberappell. Durchaus mit mehr Sympathie für die Jugend als für die Alten geschrieben. Aber es sind ja auch die Jungen, die das Leben träumbar machen und Stoff für Fiktionen bieten.
Paul Murray: Skippy stirbt. A. d. Engl. v. Martina Tichy u. Rudolf Hermstein. Verlag Antje Kunstmann. 782 S., geb., 26 €
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/193183.stoff-fuer-fiktionen.html