nd-aktuell.de / 16.07.2001 / Kultur
»Schweigen käme mir feige vor«
Im Gespräch mit Mario Vargas Llosa aus Peru
»Künstler und nur Künstler zu sein, kann in unseren Ländern zum moralischen Verbrechen werden«, schrieb er vor Jahren. Ausschließlich Künstler wollte er nie sein: Mario Vargas Llosa, Bestsellerautor aus Peru. Linker Rebell und Castro-Verehrer ist er gewesen, dann Castro-Gegner und Prophet der reinen neoliberalen Lehre. In seinem Heimatland versuchte er 1990 Präsident zu werden; scharfzüngige politische Essays schreibt er noch immer: kaum ein Konflikt in der Welt, den er nicht - rhetorisch glanzvoll - reflektiert. Der Künstler als Chamäleon. Mit seinem jüngsten Buch im Suhrkamp Verlag, »Das Fest des Ziegenbocks«, sorgte Vargas Llosa gerade für Furore: Einige Kritiker lobten den Roman über Diktator Trujillo als Glanzstück moderner Prosa, andere entdeckten schwerwiegende stilistische wie inhaltliche Mängel. Benjamin Jakob sprach den Autor kürzlich in Berlin.
ND: Weshalb haben Sie über die Dominikanische Republik geschrieben und über Rafael Leónidas Trujillo? Warum nicht, wie schon einmal, über eine peruanische Diktatur?
Durch Zufall. 1975, als ein Film nach einem meiner Bücher gedreht wurde, verbrachte ich acht Monate in der Dominikanischen Republik. Das eine große Thema für die Dominikaner war in diesen Monaten immer noch Trujillo und seine 31 Jahre währende Ära. Ich hörte viele Geschichten, Anekdoten, Legenden, Mythen über dieses Regime, die mich sehr beeindruckten. Die Trujillo-Diktatur ist das Sinnbild einer ganzen Epoche von Diktaturen, Sinnbild der autoritären Tradition in Lateinamerika.
ND: Sind jene Abschnitte im Roman, in denen Sie davon erzählen, dass die Aristokratie ihre Töchter und Ehefrauen dem Diktator ausgeliefert hat, verbürgt? Gerade gegen diese Passagen soll es in der Dominikanischen Republik starke Angriffe gegeben haben.
Das ist eine allseits bekannte und gut dokumentierte Tatsache: Trujillo ging ins Bett, mit wem er wollte. In Dutzenden dominikanischen Familien habe ich von dem Horror gehört, den die Eltern halbwegs hübscher Töchter durchlebten, von der Angst, dass die Mädchen den Söhnen Ramfis und Rhadamés gefallen könnten oder gar Trujillo selbst.
Die Wahrheit ist auch: Wenn sich Trujillo für eine Ehefrau oder Tochter interessierte, war das für viele Familien, als hätten sie in der Lotterie gewonnen. Trujillo ist großzügig gewesen, er belohnte seine Freundinnen. Viele Familien haben dies zynisch ausgenutzt, auch arme Familien, was besonders traurig ist.
Trujillos persönlicher Sekretär, ein recht sympathischer Herr namens Calil Aché, erzählte mir, die Leute hätten dem Generalissimus bei dessen Rundfahrten durch die Dörfer stets so viele Mädchen schenken wollen, dass es zum Problem wurde. Väter brachten ihm ihre Töchter mit Inbrunst und Verehrung, weil sie wussten: Jene Art Geschenk schätzte der Generalissimus am meisten. Doch der wusste gar nicht, was er mit all den »Geschenken« anfangen sollte! Dieses Problem musste Senior Calil Aché dann lösen. Aber hätte ich das im Buch so erzählt, hätte man es nicht geglaubt. Deshalb musste ich die Geschichte stark abschwächen - ein typischer Fall dafür, dass die Realität die Fiktion manchmal übertrifft.
ND: Als Sie die von Trujillo und seinen Anhängern begangenen Grausamkeiten beschrieben - haben Sie sich geekelt oder fühlten Sie zugleich eine gewisse Faszination?
Mann, ich bin doch kein Sadist! Ich hatte keinerlei Freude daran, diese Schrecken zu beschreiben! Gerade die Folterungen sind gut dokumentiert - von den Überlebenden, aber auch von den Folterern. Auch in diesem Fall musste ich - man mag es nicht glauben - die Realität mildern, einen Schleier darüber hängen. In Wirklichkeit war alles viel schlimmer. Doch wenn die Leser mit so schrecklichen Dingen konfrontiert werden, wehren sie sich: Sie glauben sie nicht.
ND: Wenn Sie in sich hinein lauschen, jetzt, nach Abschluss des Buches - sind Sie zufrieden mit dem, was Sie geschafft haben?
Eine literarische Arbeit zu beenden und sie als fertiges Buch zu sehen, ist stets eine Befriedigung. Um so mehr, wenn das Buch Erfolg hat. Aber die größte Freude des Schriftstellers besteht darin, das Werk zu schaffen: Zuerst die Freude, das mögliche Thema einer Geschichte entdeckt zu haben. Dann der langwierige, langsame Prozess der Vorbereitung auf die Arbeit. Dann die ersten Versuche und die Freude darüber, zu sehen, wie die Geschichte langsam Form annimmt ... Diese Befriedigung kann man nur schwer in Worte fassen. Am Ende entdeckt man jedenfalls, dass sie bereits der eigentliche Lohn gewesen ist.
ND: Wenn Sie dieses so erfolgreiche Werk »Das Fest des Ziegenbocks« mit Ihren frühen Romanen, zum Beispiel »Das grüne Haus« vergleichen: Sind Sie dann zufrieden?
Ich bin zufrieden, alle Bücher, die ich schrieb, tatsächlich geschrieben zu haben, natürlich. Andernfalls hätte ich sie nicht veröffentlicht. Doch wenn ein Schriftsteller sich eine gewisse Hellsichtigkeit bewahrt hat, wird er mit dem Erreichten immer unzufrieden sein. Wenn er sich mit Abstand an das erinnert, was er geschaffen hat, ja, sicherlich wird man selbstkritischer.
ND: Sind Sie selbstkritisch?
Ich glaube, ich bin sehr selbstkritisch. Deshalb dauert die Arbeit an meinen Büchern immer so lange. Ich publiziere sie nicht, wenn ich meine, dass ich die absolute Perfektion erreicht hätte, sondern wenn eine gewisse Sättigung eingetreten ist. Wenn ich merke, dass ich nun nicht mehr weiterkomme. Dann muss ich das Buch fertig machen, damit das Buch nicht mich fertig macht. Aber absolute Zufriedenheit ... Es gibt Schriftsteller, die sich in Idioten verwandeln. Sie halten sich für Statuen, sie bewundern sich im Spiegel! So einer hat keinen Durchblick mehr. Ich glaube nicht, dass ich dieses Stadium erreicht habe. Ich denke, ich bin mir meiner Grenzen durchaus bewusst.
ND: Kritiker behaupten, Ihre frühen Werke seien Ihre besten gewesen - sind Sie auch dieser Ansicht?
Ich habe nicht die Perspektive, wie sie ein objektiver Leser besitzt, der dem Verlauf meines gesamten Werkes folgen kann. Eines ist mir aber bewusst: In meinen ersten Romanen war die Form viel sichtbarer als heute. Wenn man mit dem Schreiben beginnt, glaubt man noch, je komplizierter ein Werk wird, desto tiefgründiger sei es. Erst später entdeckt man, dass die vielleicht größte Schwierigkeit eines kreativen Werkes darin besteht, die Form unsichtbar zu machen. Für den Leser von »Das grüne Haus« ist die Form fast so wichtig wie die Geschichte selbst. Die eigentlichen Protagonisten des Romans sind die Zeit und der Satzbau, die Art und Weise, in der der Singular und eine kollektive Form sich vermischen.
Wenn man hingegen »Das Fest des Ziegenbocks« liest ... Da hat man nicht den Eindruck, nicht wahr, dass Sprache oder Zeit oder der erzählerische Raum oder Standpunkt die Hauptrolle spielen. Sie tun es trotzdem, glaube ich. Nur: Die formalen Elemente werden viel weniger sichtbar. Aus meiner Sicht ist das ein Fortschritt.
ND: Wenn irgendeine große Zeitung zu irgendeinem Problem heute eine Meinungsäußerung aus Südamerika publizieren will, dann sucht sie die meist nicht in Südamerika, sondern druckt die schon fertige Meinung von Mario Vargas Llosa...
Ich kann nicht kontrollieren, was mit meinen Äußerungen geschieht. Ich bemühe mich natürlich darum, dass sie nicht verzerrt wiedergegeben werden. Deshalb schreibe ich Artikel, deshalb habe ich eine Kolumne in »El País«, denn so, mit meiner Unterschrift, kann ich meine Meinung in eigenen Worten darlegen. Bei Interviews, ja, da kommt es häufig zu Verzerrungen. Aber dieses Risiko kann man nur vermeiden, indem man sich der Stimme enthält. Man müsste schweigen. Doch das käme mir feige vor.
ND: Sie sind also kein Narziss?
Nein. Ich bin viel zu sehr mit spannenden Dingen beschäftigt, um ein Narziss zu sein, ein Mensch, der nur seinen Bauchnabel betrachtet!
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/1967.schweigen-kaeme-mir-feige-vor.html