So sehr sich Franz Fühmann beim Schreiben auch quälte, für Kinder schrieb er gern. Die Mythennacherzählungen »Prometheus. Die Titanenschlacht«, »Irrfahrt und Heimkehr des Odysseus« und »Die Sage von Trojas Fall« – soeben im Hinstorff Verlag neu herausgebracht – sind für Kinder wie für Erwachsene lesbar.
Mythen erzählen Geschichten aus der Kindheit der Menschheit. Wie ist alles geworden? Auf die Frage antwortet im Mythos ein bildmächtiges Erzählen, das die Substanz von Jahrtausenden an Menschheitserfahrung ins Gleichnis bringt. In seinem immer wieder nachlesenswerten Vortrag »Über das mythische Element in der Literatur« (in: »Essays, Gespräche, Aufsätze«) von 1974 zählt Fühmann Worte auf: Sterne, Wald, Nebel, Gott, Strafe ... Jedes dieser Worte kann zum Zauberspruch werden, der löst oder bindet. Das Besondere dieses mythischen Sprechens ist das unaufhebbare Zugleich des Gegensätzlichen in ihm: »Ein jedes dieser Wörter ist ganz alltäglich, und jedes kann gänzlich Geläufiges sagen, doch in jedem Wort lebt auch das Uralte, und das Geheimnis des lebendigen Feuers und Wassers, das Geheimnis von Wolke und Sternnacht und Weidenbaum wirkt in den Sprachen wie in den Gründen der Seele fort. Das Wort ist das Grundmaterial der wissenschaftlichen Aussage w i e der Dichtung, die Sprache ist die Mutter des Logos u n d des Mythos, darum kann ein und derselbe Satz völlig verschiedener Botschaft sein.«
Da wird es dann anspruchsvoll, aber ich erinnere mich, mit welchem geistigen Hunger ich diesen so wichtigen Aufsatz Anfang der 80er Jahre gelesen habe und mit welcher Hartnäckigkeit ich den Überlegungen zu Karl Kerenyi zu folgen versuchte – ich versuche es noch heute. Einen ähnlich persönlichen Zugang zu Franz Fühmann finde ich nun in einem neuen Buch von knapp hundert Seiten, mit dem Erik Baron unter dem Titel »Gelingen und Scheitern im Berg. Annäherungen an Franz Fühmann« (erschienen im Selbstverlag) eine lebensgeschichtliche Klammer für dessen zahlreiche Metamorphosen durchlaufendes Werk findet: »An Fühmanns Leben, seinem Pendeln zwischen den Extremen, seinen Wandlungen, seiner Hoffnung und seinem Scheitern, lässt sich DDR-Geschichte foliengleich abbilden.« Fühmanns Werk: selbst ein Mythos, ein Bergwerk! In jenem berühmten Vortrag von 1974 erklärt Fühmann Märchen für herabgesunkene und ihres Menschheitswiderspruchs beraubte Mythen. Das war für ihn jedoch nur eine vorläufige Abwendung von den Märchen in der Hinwendung zu den Mythen. Denn in seinen letzten Lebensmonaten schrieb er – Märchen. Doch das waren nun Mord- und Foltergeschichten, die er vorsichtshalber unter den Titel »Märchen für Erwachsene« stellte.
Mitte der sechziger Jahre beginnt Fühmanns großes Mythen-Nacherzählungswerk. Es sind wie so oft bei ihm, Neuanfänge inmitten einer schweren Krise. Erst kam das 11. ZK-Plenum im Dezember 1965, das als Verbotsplenum den unheilbaren Riss zwischen Geist und Macht offenlegte, es folgten 1968 die Ereignisse in Prag. Zu dieser Gegenwart fiel ihm nichts mehr ein! Der Alkohol hatte ihn an den Rand seiner physischen und psychischen Existenz gebracht. Er wusste, dass sein Schreiben einer Läuterung bedurfte, dass er zu den eigenen Wurzel zurückkehren musste, wenn er sich nicht vollends verlieren wollte. Die Mythennacherzählungen wie auch die Gedichtübersetzungen aus dem Tschechischen und Ungarischen wurden ihm wichtige Überlebensmittel. Hier waren die großen Menschheitsthemen und da seine Aufgabe als ein demütiger Diener der Kunst. Die Mythennacherzählung, die zugleich deren überraschend witzige und geistreiche Deutung ist, hat er dann aufgeben als er zu Trakl und dem Bergwerk kam, aber das Nachdichten fremder Gedichte (eigene zu schreiben hatte er sich verboten), war ihm bis zuletzt wichtig.
Bei den Mythen, den Anfängen der Menschheit, ist er auch beim Ursprung der Kunst. Das Archetypische ist das, was die Dichtung gegenwärtig macht. Aus ihm kommt die Magie, das, was den Leser bannt – und ihn im besten Falle verwandelt. Franz Fühmann notiert 1982: »Wäre ich, sagen wir, 1968 gestorben, wäre ich in die Grube gefahren als der, der ich ja noch heute in der Literaturgeschichte meines Landes fortlebe: als der Vergangenheitsbewältiger mit der schönen Sprache und den lieben Kinderbüchern und den treffenden Nachdichtungen – hätte es nicht eben jene Erschütterungen vom August 1968 gegeben, mit dem Willen: jetzt möchte ich sehen, w a s i s t , um mit Rosa Luxemburg zu sprechen. Damit fing das Eigentliche an.« Zu diesem Eigentlichen gehören auch seine Mythen-Nacherzählungen. Auf welche Höhe der Kunst hebt er das Erzählen hier! So lesen wir, was Prometheus und die Titanen hervorbracht haben in ihrem göttlichen Übermut, der nicht ohne geistige Beschränkung ist. Was sind das für bislang ungehörte Geräusche? »Verirrte Fuchsjungen heulen so; Prometheus aber klang es süßer als Nachtigallenschlagen und erhabener als das Donnern eines entstehenden Sterns. Unendlich sanft strich er dem Wesen über die Nase; es nieste. ›Es ist gelungen!‹, schrie Prometheus und klatschte in die Hände und begann von einem Fuß auf den anderen zu springen ...« Der Titanensohn bläst von rechts und die Ziege von links dem auf dem Boden Liegenden den Lebens-Odem ein.
Welchen Namen soll man dieser Mischung aus titanisch und ziegisch geben? Prometheus weiß eine Lösung: »Määhntschen!« Dem Gotterboten Hermes behagt das nicht: »Määhntschen, Määhntschen – es klingt sehr nach Matsch.« Man weiß, wie die Namenssuche ausgeht – aber wie Fühmann die ganze Götterfamilie in Bewegung versetzt, das ist voller hintersinnigem Sprachwitz. Hier zeigt sich seine schier unerschöpfliche Freude an Rätseln und Sprachspielen – eine übermütige Reise auch in die Mitte der Worte, die eine eigene Welt sind.
Alle drei Mythen-Bücher sind neu illustriert worden von Susanne Janssen, die bereits mehrere Preise für ihre Arbeiten erhalten hat. Ich erkläre mich hier für befangen, denn für mich gehören die Zeichnungen Nuria Quevedos zum »Prometheus«. Diese sind nicht bloße Illustration, sondern kongeniale künstlerische Ergänzung des Textes durch das Bild. Ansehenswert sind Janssens farbige, collagenhaft-großflächige Bilder, die mit Pop-art-Elementen und einem provozierenden Manierismus spielen, jedoch auf jeden Fall – und vielleicht wird eine neue Generation von Lesern ihre Erinnerung an Fühmanns Mythennacherzählung fortan mit Susanne Janssen verbinden, so wie ich mit Nuria Quevedo? Doch wie bekommt man den ganzen, so erstaunlich vielfältigen Fühmann immer wieder in den Blick? Das schöne kleine Lese-Notate-Buch von Erik Baron hilft dabei – ein Lexikon im besten Sinne.
Franz Fühmann: Prometheus und die Titanenschlacht. Irrfahrt und Heimkehr des Odysseus. Die Sage von Trojas Fall. Mit Bildern von Susanne Janssen. Hinstorff Verlag Rostock. 272 S., 180 S., 150 S., geb., 18,95 €, 16,95 € u. 14,95 €.
Erik Baron: Gelingen und Scheitern im Berg. Annäherung an Franz Fühmann. Selbstverlag. 89 S., brosch., 10 € (inklusive Versand), Kontakt: erikbar@gmx.de[1]
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/201145.spiel-mit-archetypen.html