Cem Özdemir gibt sich sichtlich Mühe, staatsmännisch zu wirken. Kein Wunder, denn seine Partei will spätestens nach der Bundestagswahl 2013 wieder auf Bundesebene mitregieren. Welche Prioritäten die Grünen dann in ihrer Außenpolitik setzen wollen, machte Parteichef Özdemir gestern zum Abschluss der Bundesvorstandsklausur in Schwerin deutlich: »Wir begrüßen es, dass Libyen nun nach dem Ende der Herrschaft Gaddafis die Chance hat, sich demokratisch zu entwickeln.« Deutschland habe jetzt eine Bringschuld, diesen Wandel zu unterstützen. Denn es sei unverantwortlich gewesen, dass sich die Bundesrepublik im März dieses Jahres bei der Abstimmung im UN-Sicherheitsrat über die Resolution zu Libyen enthalten habe. Diese hatte die monatelange Bombardierung des nordafrikanischen Landes durch die NATO zur Folge. Die Bundesregierung habe eine Geste der Solidarität gegenüber den Rebellen einfach verweigert, kritisierte Özdemir.
Einer der Verantwortlichen für diese Entscheidung war Außenminister Guido Westerwelle (FDP). Özdemir forderte indirekt dessen Rücktritt. »Westerwelle wurde von seinem Parteivorsitzenden Philipp Rösler demontiert. Der Außenminister ist eine ›lame duck‹, eine lahme Ente«, so Özdemir. Eine solche Schwächung könne sich Deutschland nicht leisten.
Weniger scharf fiel die Kritik gegenüber der CDU aus, der die Grünen aber zumindest Führungsschwäche in der Europäischen Union attestierten. Bereits am Montag hatte Özdemir Bundeskanzlerin Angela Merkel dazu aufgerufen, den »Zögerern« in der Union und der FDP klar zu machen, dass an gemeinsamen Euro-Staatsanleihen, sogenannten Eurobonds, kein Weg vorbeiführe. Der Grünen-Chef forderte außerdem die Abgabe nationaler Kompetenzen an Brüssel, wo eine von der EU-Kommission getragene europäische Wirtschaftsregierung entstehen solle.
Diese Forderung findet sich auch in der Schweriner Erklärung wieder, die bei der Klausur ausgearbeitet wurde. Weitere Schwerpunkte darin sind die Kernthemen der Grünen: Bürgerbeteiligung, ökologische Landwirtschaft sowie Umwelt- und Verbraucherschutz. Dass Deutschland inzwischen auf 20 Prozent Ökostrom setzt, bewertet Özdemir wie Bundesumweltminister Norbert Röttgen (CDU) als großen Erfolg.
Nicht zufällig hatte der Bundesvorstand Schwerin als Tagungsort ausgewählt. Dort ist der Kampf um Stimmen für die Landtagswahl am 4. September in der Endphase. Auf den Plakaten in der Landeshauptstadt setzen die Grünen verstärkt auf Bundesprominenz, die mit der Politik im Nordosten wenig zu tun hat, wie Baden-Württembergs Regierungschef Winfried Kretschmann oder der Vorsitzende der Bundestagsfraktion Jürgen Trittin. Mit ihrer Hilfe wollen die Landesgrünen die langjährige politische Bedeutungslosigkeit endlich überwinden. Dabei setzen sie auf Proteste gegen Massentierhaltung, Rufe nach Förderung bäuerlicher Strukturen und nach einer Überprüfung der Betriebserlaubnis für das Atommülllager in Lubmin. In Umfragen liegt die Partei bei rund acht Prozent. Damit wären die Grünen ab dem Wochenende in allen Landesparlamenten vertreten.
Der Landesvorsitzende Jürgen Suhr träumt sogar von einer Regierungsbeteiligung. »Dass Rot-Grün bei den beliebtesten Regierungskoalitionen nach Schwarz-Rot bei den Bürgern auf Platz zwei liegt, zeigt schon ein beachtliches Vertrauen«, versuchte Ko-Parteivorsitzende Claudia Roth den Landesverband stark zu reden. Das Land habe so viele bisher vernachlässigte Potenziale, so viel Reichtum, so viele Chance, schwärmte Roth. Blühende Landschaften in einem der strukturschwächsten Länder dank grünem Daumen?
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/205657.schwaermerin-mit-gruenem-daumen.html