Die Geschichte muss zunächst von denen erzählt werden, die sie erlitten haben«, meint Robert Bober, »von denen, die sie überlebt haben«. Sein neuer Roman spielt Anfang der sechziger Jahre, als er erste Erfahrungen als Assistent des Regisseurs François Truffaut gesammelt hat und selbst Filme drehen will, Dokumentarfilme, denen er eher zutraut, die Wahrheit zu ergründen als den andern, der Wirklichkeit nachgestellten, die Gefahr laufen, sie eines gelungenen Einfalls wegen zu verraten.
Bei den Dreharbeiten zu »Jim et Jules« begegnet er Bernard Appelbaum wieder, der als Kind jüdischer Flüchtlinge in Frankreich überlebte und den er nach der Befreiung von der Naziherrrschaft in einer Kinderkolonie kennenlernte. Ausgehend von Truffauts Dreiecksgeschichte nach dem autobiografisch grundierten Roman von Henri-Pierre Roché erfährt Bernard von einer ähnlich leidenschaftlichen Liebesgeschichte seiner Mutter Hannah, seines – später von der Gestapo aufgegriffenen und deportierten – Vaters Yankel, der sich in Frankreich Jacques nannte, und seines Stiefvaters Leizer, der nach dem Krieg bei einem Flugzeugabsturz ums Leben kam. Die Vorgeschichte seiner Familie also, die im polnischen Dorf Przytyk bei Radom begonnen hatte. Dorthin, nach Polen, macht Bernard Appelbaum sich gegen Ende des Romans auch auf, zu seinem ermordeten, verschwundenen Vater. »Ich fahre nach Polen zurück, ohne jemals dort gewesen zu sein. Ich sitze im Bus, der von Krakau nach Auschwitz fährt.«
Robert Bober schreibt – wie schon in seinen früheren Romanen »Was gibt's Neues vom Krieg?« und »Berg und Beck« – mit großer Zärtlichkeit von seinen Romanfiguren, und ebenso zärtlich gehen sie miteinander um. Allein die Passagen, in denen Bernard von seinem jüngeren Stiefbruder Alex erzählt, werden dem Leser, der Leserin wegen ihrer behutsamen Menschenfreundlichkeit lange nicht aus dem Sinn gehen. Erstaunlich auch seine scharfe, dabei nie verletzende Beobachtungsgabe, die uns das populäre Paris erschließt, seine Zuneigung zu Revolutionären, Handwerkern, Kneipengehern, zu allen, die nicht willens sind, die Vergangenheit als vergangen abzutun, selbst wenn sie, wie Bernard, absolut kein Bedürfnis haben, sie »erneut zu durchleben«. Schritthalten mit den viel beschworenen Herausforderungen der Gegenwart, das würde bedeuten, sich dem Vergessen zu ergeben und um das Verstehen zu drücken. So nimmt es nicht wunder, dass Bernard auf der Suche nach seiner Bestimmung häufig den Flohmarkt besucht, »wo all die verstreuten Erinnerungen durchein-ander herumliegen, sich manchmal voneinander lösen. »Ich mochte an dem Ort auch, daß er seiner eigenen Unordnung treu blieb.«
Bobers topografisches Gedächtnis, das er immer aufs Neue übt, lässt an einen wenig bekannten Text seines Freundes Georges Perec denken, in dem dieser auf detailbesessene Art eine Straße beschrieb und dabei festhielt, wie sie sich über die Jahrzehnte hinweg veränderte. Was hier als Etüde, dort als Rapport eines Flaneurs erscheint, ist Ausdruck der in den Jahren der Verfolgung erworbenen Fähigkeit, sich die Umgebung genau einzuprägen – ihre Fallen, ihre Fluchtwege. In Friedenszeiten und in Unkenntnis der traumatischen Kindheit des Protagonisten wirkt sie wie reine Neugier – auf die Menschen, auf die Straßen, auf Läden, Hinterhöfe und Fassaden. »Die Zukunft«, so Jim zu Jules in Truffauts Film, »gehört den Neugierigen von Beruf«. In Robert Bobers schlichter, dabei vor Erwartung flirrender Sprache, die Tobias Scheffel diskret, wie selbstvergessen übersetzt hat, sodass sich die deutsche Fassung nie vor das Original schiebt, erscheint diese Zukunft in einem sepiafarbenen Ton.
Robert Bober: Wer einmal die Augen öffnet, kann nicht mehr ruhig schlafen. Roman. A. d. Franz. v. Tobias Scheffel. Verlag Antje Kunstmann. 255 S., geb., 19,90 €
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/208563.all-die-verstreuten-erinnerungen.html