nd-aktuell.de / 10.08.2002 / Kultur

Am heutigen Sonnabend wird Schauspieler Jürgen Holtz 70 Jahre alt

Ist doch alles Kawatsch, oder?

Hans-Dieter Schütt
Der Glatzgnatzkopf. Hat was von verwüsteter Gutsherrenart. Was in diesem Mann gern aufglimmt, ist der gallige Witz des Fürchterlichen; in hämischer Sprachlakonik schwingt eine Dimension des Unheimlichen mit. Gedanken können in diesem Gesicht wie Tumore wachsen. Knopfaugen, in fester Lebens- und Arbeitsgemeinschaft mit den mürrischen oder feist-freudigen Mundwinkeln, schauen dem Gang der Dinge so verblüfft wie hypnotisierend nach - bis alles in vorgezeichnete Vergeblichkeit abstürzt.
Mag sein, dass Jürgen Holtz mehr und mehr in Rollen hineinwuchs, die ein Dilemma kennzeichnen: Er ist ein Schauspieler der verlorenen Hoffnungen. Arbeit hält ihn zwar auf der Bühne, etwas Typisierendes scheint ihn inzwischen festzulegen - aber sein Leben scheint nach wie vor in Anlässen von Arbeit zu stecken, die es nicht mehr gibt.
Der hoch Gebildete, der Widerborstige, dem jedes Umarmungstalent fehlt, er hat tiefernste Urgründe für seine Kunstausübung. Wer wie er das Publikum aus »vollgefressener Unaufmerksamkeit« reißen will, findet schnell zu Heiner Müller. Oder zu B. K. Tragelehn und Einar Schleef (»Fräulein Julie« am Berliner Ensemble, mit Holtz und Jutta Hoffmann, wurde 1975 nach kurzer Zeit aus dem Spielplan getrieben); Holtz war Jahre zuvor Adolf Dresens aufstörender Hamlet in Greifswald - Beginn einer Laufbahn, in der Einmischung und Verbotenwerden zu einander bedingenden Faktoren künstlerischer Leidenschaft und Gedankenkraft wurden. Auch dem Moritz Tassow erging es so, Holtz in der Titelrolle des Hacks-Stückes, das Besson an der Volksbühne uraufgeführt hatte; für ein paar Aufführungen nur.
1983 verließ er die DDR, arbeitete von 1985 an für zehn Jahre, mit Unterbrechungen, in Frankfurt (Main). Wieder mit Schleef (»Mütter«, »Vor Sonnenaufgang«, »Die Schauspieler«), in Müller-Stücken, bei Wolfgang Engel. Zu seinen großartigen Arbeiten der letzten Jahre gehört das Ein-Personen-Stück »Katarakt« von Rainald Goetz, von Hans Hollmann in Frankfurt (Main) inszeniert, später auch am Deutschen Theater Berlin gezeigt. Eine geradezu brutale Rede- und Schweigerolle. Wie ein Geisterschiff landet da ein Alter auf der Bühne. Die Schlüsselworte fallen früh: »Biografie: grässlich.« Und. »Alles Quatsch.« Nein, der Berliner Holtz, Sohn eines Drogisten, sagt natürlich: »Alles Kawatsch.« Und er schlurft sich eine Choreografie des Verdämmerns zusammen. Schaurige Ausschweifungen eines lebenden Leichnams. Die Sprache und das Ich: Geschichte einer dauernden Entzweiung, und Jürgen Holtz in einer Rolle, die ihn wohl selber sehr erschütterte. Es stellte sich im Verlauf des bösen Abends, an den Abgründen einer gebrochenen Menscheninnenwelt, fast gute Laune ein. Die Bosheit freundlich, der Pessimismus kreuzfidel, der Ausbruch zart und die Sanftheit explosiv. Was rauschhaft, verquer anmutete, durchknetete Holtz mit pathologischer Nüchternheit.
Von gleich bohrender Tonlage, von mürrischer Schwere und biegsam-verschlagener Sehnsucht nach Daseinswärme: der »Weltverbesserer« von Thomas Bernhard (Holtz spielte mit Eleonore Zetzsche), ebenfalls in Frankfurt inszeniert, von Engel, später ebenfalls im DT.
Die Soli. So »endet« einer, den man in bösen Urteilen über den Zustand seiner großen Liebe Theater vermuten darf. Überall Verlotterung - im Sprachlichen, im Geistigen, im Ethischen. Geschäftige Gleichgültigkeit. Holtz, einst Lehrer an der Berliner Schauspielschule, ein Mann mit Sprachsinn und Grübellust - er spielt in Inszenierungen, aber mitunter meint man zu spüren, er sei inmitten aller, inmitten des schnurrenden Stadttheater-Betriebs, doch allein. Was ab und zu in konsequenten Ausstiegen endet. Freilich: Bleibt er, wird einiges grandios. So sein zaubernder Puck in Goschs DT-»Sommernachtstraum«; Oberons Diener in Turnhose, ein Kalfaktor von schwabbeliger Müdigkeit. Oder seine sozialistische Funktionärs-Schranzigkeit in Franz Wittenbrinks »Zigarren« am BE.
Als Motzki, 1993 in Wolfgang Menges gleichnamiger Fernsehserie, wurde Jürgen Holtz in Anlehnung ans Ekel Alfred des unvergesslichen Heinz Schubert zum Prototyp des übellaunigen Ostmenschen-Beschimpfers. Mit dieser Satire auf pusseligen Kleingarten-Sozialismus, plakativen Multikulti-Foklorismus und soziale Milieumiefigkeit rief der Schauspieler Heerscharen von Witzlosen, Beleidigten und Ehrgekränkten auf den Plan. Menges Publikumsbeschimpfungen wurden plötzlich Anlass zu ebenso komischen Abwehrreaktionen von Leuten, die sich plusternd in die ostdeutsche Anwaltspose warfen. Deutsche Grobheit und das deutsche Talent, beleidigt zu sein - eine entsetzliche, eine entsetzlich lustige Mischung.
Dabei funktionierte dieser bärbeißige Hausschuh-Philosoph Motzki, eingekreist von türkischen Obsthändlern, doch genau nach jenem Muster, mit dem die Hasserfiguren des Thomas Bernhard ihre bösen Tiraden in die Welt schleudern: Hinter den Übertreibungen an Unempfindlichkeit lauert ein Zuneigungsgefühl - und zwar auf die Chance, sich zu offenbaren. Aber just dort, wo diese Chance geahnt werden darf, steigert die Angst vor der Verletzbarkeit nur wieder den Poltergeist der Verunglimpfungsfreude. Der Angst hat vorm Pathos einer verwundeten Natur.
Er war Shylock, der Gloster im «Lear«, er spielte Kleist, gab den Saladin im »Nathan«, den Angelo in «Maß für Maß« - dieser Einzelgänger ist der versteckte, ganz von Stolz und Anspruch und Berliner Schnoddrigkeit umbettete Feinsinn; nur auf den ersten Blick zuvörderst im Gröberen daheim. Holtz erobert nicht automatisch Publikum, er setzt auf Kräfte der Distanz, die aus einem denkenden Körper heraus wirken. Ja, mit grinsender Liebe auch zu intensiver Schmierenkomödianterei, angesiedelt in den Urständen menschlicher Darstellungsträume - es lebe der Kawatsch!
Ich sähe ihn, den Mann mitten im Spätwerk, gern in Besetzungen, mit denen mutige Regisseure bewusst gegen festgekerbte Erwartungen arbeiten. So gibt es also noch genügend Zukunft.