Das Jahr 2011 brachte den Arbeitnehmern in Deutschland durchschnittlich 3,3 Prozent mehr Lohn. Eine gute Nachricht, sollte man meinen. Bei näherer Betrachtung erweisen sich die Zahlen, die das Statistische Bundesamt in Wiesbaden am Montag veröffentlichte, jedoch kaum als Grund zum Jubeln. Im gleichen Zeitraum stiegen nämlich auch die Preise für Lebensmittel, Kleidung und Benzin wieder kräftig an: Bei einer Inflationsrate von 2,3 Prozent blieb den Beschäftigten somit real nur noch ein Prozent mehr Geld übrig.
Noch deprimierender stellt sich die Lage dar, wenn man sich anschaut, wie sich Löhne und Verbraucherpreise seit Einführung des Euro entwickelt haben: Wie das Statistische Bundesamt vor Kurzem mitgeteilt hatte, betrug die Inflationsrate von Januar 2002 bis November 2011 ganze 17 Prozent - im gleichen Zeitraum stiegen die Durchschnittslöhne aber nur um 11,2 Prozent. Real hatten die Beschäftigten also weiterhin jedes Jahr weniger Geld in der Brieftasche, auch wenn sich die Zahlen auf dem Lohnzettel erhöht haben mögen.
Michael Schlecht, Ökonom der Linkspartei im Bundestag, sieht in den aktuellen Zahlen ebenfalls keinen Grund zur Freude: In den Jahren 2000 bis 2010 seien die Löhne real um 4,5 Prozent gesunken, sagte Schlecht gegenüber »nd«. Mindestens elf Prozent plus hätten es jedoch sein müssen, wenn die Unternehmen den verteilungsneutralen Spielraum ausgenutzt hätten. Dieser ergibt sich aus der Produktivitäts- plus der Preissteigerungsrate und markiert jene Obergrenze für Lohnerhöhungen, welche die Unternehmen nichts kosten würde. Da dieser Spielraum bei weitem nicht ausgeschöpft worden sei, so Schlecht weiter, hätten die Arbeitnehmer im vergangenen Jahrzehnt rund 15 Prozent Lohnminus hinnehmen müssen - zusammengerechnet eine Billion Euro sei den Beschäftigten in Deutschland auf diese Weise entgangen.
Zum letztjährigen Lohnplus beigetragen haben auch Effekte, die sich nicht in jedem Jahr wiederholen lassen: Laut Statistischem Bundesamt bekommen viele Kurzarbeiter nach dem Ende der Krise nun wieder volles Gehalt, einige Firmen belohnten ihre Mitarbeiter mit Sonderzahlungen. Auch Tarifabschlüsse in manchen Branchen erhöhten die Berechnungsgrundlage für den Durchschnittslohn.
Vor dem Hintergrund der real weiter sinkenden Löhne erscheint der am Montag im »Spiegel« angekündigte Plan der Gewerkschaft IG Metall, in den anstehenden Tarifrunden 6,5 Prozent mehr Lohn zu fordern, keineswegs so abwegig, wie die Arbeitgeber die Öffentlichkeit glauben machen wollen. Vielmehr wäre selbst eine vollständige Umsetzung dieser Forderung kaum mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein. 2011 hatten die Gewerkschaften laut einer Studie des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts in der Hans-Böckler-Stiftung (WSI) durchschnittliche Lohnsteigerungen von 2,0 Prozent erstritten - die eine Inflationsrate von 2,3 Prozent allerdings in ein reales Minus von 0,3 Prozent verwandelte.
Und für dieses Jahr stehen die Chancen auf große tarifliche Lohnsteigerungen eher noch schlechter: Das WSI bewertet die Ausgangslage für die beginnenden Tarifrunden als »ungünstig«. Absehbar sei, dass der Export sich abschwächen und die wirtschaftliche Entwicklung allgemein stagnieren werde. Bereits das letzte Quartal 2011 zeigt, in welche Richtung die lohnpolitische Kurve wohl zeigen wird: Von Oktober bis Dezember 2011 stiegen die Löhne gegenüber dem Vorquartal um 2,1 Prozent. Da sich die Verbraucherpreise jedoch im gleichen Zeitraum um 2,3 Prozent erhöhten, sanken die Löhne real um 0,2 Prozent.
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/217707.noch-viel-platz-in-der-lohntuete.html